Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
nehmen. Sie musste mindestens noch eine Nacht woanders schlafen und sollte wenigstens ihre Sachen um sich haben.
Träge zog er eine Schublade des kleinen Schreibtischs auf, den Joanie für Reece organisiert haben musste. Darin entdeckte er zwei gespitzte, entzweigebrochene Bleistifte, einen schwarzen wasserfesten Filzstift und ein schmales, ledergebundenes Büchlein, worin manche Leute Fotos von ihren Kindern oder Haustieren mit sich herumtragen. Neugierig geworden, schlug er es auf.
Das Foto zeigte eine alte Frau mit wachen Augen, die auf einer Bank in einem gepflegten Garten saß. Ihr Gesicht war mit einem großen schwarzen X beschmiert. Es gab noch mehr Fotos. Dieselbe Frau in einer weißen Bluse und schwarzen Hosen, die einen briefmarkengroßen Pudel auf dem Arm hatte. Ein Paar mit langen Schürzen, eine Gruppe von Menschen mit Champagnergläsern in der Hand. Ein Mann, der seine Arme vor einem großen Pizzaofen ausgebreitet hatte.
Sämtliche Gesichter waren mit einem schwarzen X beschmiert worden.
Auf dem letzten Bild stand Reece in einer großen Gruppe von Menschen. Das Restaurant, schlussfolgerte Brody. Das Maneo’s. Ihr Gesicht war das einzige, das nicht beschmiert war, und es strahlte bis über beide Ohren.
Unter jeder Person stand in kleinen, ordentlichen Druckbuchstaben: TOT. Und unter Reece stand: VERRÜCKT.
Hatte sie das schon entdeckt?, fragte er sich. Er hoffte nicht und schob das Büchlein in das Außenfach der Computertasche. Er würde es wieder herausnehmen und überlegen, wie er damit umgehen sollte, wenn er zu Hause war.
Obwohl er nicht vorgehabt hatte, derart in ihre Privatsphäre einzudringen, begann Brody, die Schubladen der hässlichen Kommode zu durchsuchen.
Es war ihm unangenehm, ihre Unterwäsche zu durchwühlen, aber er beruhigte sich damit, dass er sie ihr schon ein paarmal ausgezogen hatte. Wenn er sie berühren konnte, während sie sie am Leib trug, konnte er sie auch berühren, wenn sie zusammengefaltet in einer Schublade lag.
Na gut, gab er zu, ein bisschen was anderes war das schon.
Aber er brauchte nicht lange, bis er die Kommode durch hatte, denn sie besaß nicht viel. Wie er sah, reiste die Frau mit leichtem Gepäck.
Anders die Küchenschubladen. Hier lag eindeutig ihre Priorität, erkannte er. Alles war makellos aufgeräumt. Keinerlei Durcheinander. Sie schien so etwas wie unordentliche Schubladen überhaupt nicht zu kennen. Er fand Messbecher, Löffel, Quirle – was wollte man bitte schön mit mehr als einem anfangen? – und verschiedenste Kochgeräte.
Einiges davon war ihm völlig rätselhaft, aber auch diese Gegenstände sowie die Töpfe und Pfannen in den Unterschränken waren ordentlich eingeräumt.
Er fand einen Stapel Rührschüsseln und Auflaufformen in verschiedenen Größen. Wieder fragte er sich, warum es nicht auch eine einzige tat.
Im nächsten Schrank entdeckte er etwas, das er als Mörser und Stößel identifizierte, wobei der Mörser bis zum Rand mit Tabletten gefüllt war.
Er nahm ihn heraus und stellte ihn beiseite.
Brody ging ins Bad. Im Arzneischränkchen schienen die ihm bekannten Fläschchen alle ordentlich im Regal zu stehen. Aber sie waren leer.
Lauter kleine Stolpersteine, dachte Brody, während erneut Wut in ihm hochkochte. Was für ein cleveres Arschloch.
Er wollte die Hände instinktiv zu Fäusten ballen, steckte sie aber in die Hosentaschen und musterte die Wände.
Wieder diese ordentlichen Druckbuchstaben, bemerkte er, kein Gekritzel. Aber einige der Wörter, die sich überlappten, hatten etwas Rasendes, Wahnsinniges. Ihm fiel auf, dass manche Wörter von unten nach oben und umgekehrt geschrieben waren.
Wer auch immer das gewesen war – er war äußerst zielstrebig, sorgfältig und gewieft vorgegangen.
Brody holte die Digitalkamera, die er mitgebracht hatte. Er machte Fotos aus jeder Perspektive, die der winzige Raum hergab, schoss Nahaufnahmen von der ganzen Schmiererei und anschließend von einzelnen Wörtern, ja sogar von Buchstaben.
Als er den Raum in jeder nur erdenklichen Weise dokumentiert hatte, lehnte er sich gegen den Türpfosten.
In ihrem jetzigen Zustand durfte sie die Wohnung auf keinen Fall betreten. Er würde schnell bei Mac vorbeischauen und sehen, ob er etwas dahatte, womit man die Filzstiftschmierereien von Boden, Wanne und Wänden wegbekam. Keine große Sache eigentlich.
Dann konnte er auch gleich ein bisschen Farbe mitnehmen. Ein Raum von dieser Größe war sicherlich in einer Viertelstunde gestrichen.
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