Verschollen
einer Geste zum Schweigen, der offenbar Tristan hatte zurechtweisen wollen. »Du hast sicher viele Fragen und ich will sie dir nach Kräften beantworten. Am besten erzähle ich dir, was bislang vorgefallen ist.« Er holte tief Luft. »Vor einigen Mondjagden erreichten uns Berichte aus dem Westen, dass Ortschaften in Brand gesteckt wurden. Nicht einzelne Häuser, sondern fast das ganze Dorf. Die Täter kamen nachts und viele Menschen starben. Fürst Sildar schickte einen Soldatentrupp los, um die Lage zu klären, doch sie kehrten nicht zurück. Statt dessen gab es weitere Brände und so beschlossen dein Vater und William, ein weiterer Paladin, der zu der Zeit hier war, sich der Sache anzunehmen.« Johann seufzte. »William war ein tapferer, starker Paladin, doch auch er kehrte nie zurück. Darius berichtete von einem Hinterhalt von Ogern und Wolfsmenschen, die sie zusammen angriffen. Ja, Martin, zusammen«, wiederholte er, als er dessen verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte. »Diese Kreaturen sind sonst bis aufs Blut verfeindet, musst du wissen, Tristan. Es ist sehr ungewöhnlich, dass sie zusammen agieren. Deinem Vater gelang mit knapper Not die Flucht und er kehrte zur Erde zurück, um alle Paladine zusammen zu rufen, die verfügbar waren. Fast zwei Dutzend kamen, dazu die Knappen. Jessica blieb als Einzige zurück, um auf die zu warten, die nicht sofort ausfindig gemacht werden konnten, und mit ihnen als Nachhut zu folgen, wenn es nötig wäre. Gemeinsam ritten die Paladine gen Westen. Das hat es vorher nie gegeben und ich höre, man spricht auf der Insel schon vom Ritt der Paladine.«
Er machte eine quälend lange Pause und blickte stumpf auf die Tischplatte. Schließlich konnte Tristan nicht mehr an sich halten. »Und? Was ist passiert?«
Johann seufzte tief. »Ich weiß es nicht, aber ich habe Visionen gesehen. Schreckliche Bilder, viele Tote.« Er schüttelte düster den Kopf.
Tristans Stimme zitterte. »Ist … mein Vater … tot?«
Johann blickte ihn ernst an. »Ich weiß es nicht, Tristan. Ihn habe ich nicht gesehen, aber keiner der Paladine ist wieder aufgetaucht. Also kam Jessica mit den letzten verbliebenen Paladinen her, sechs waren es, und wir schickten sie in Zweiergruppen aus, um etwas herauszufinden.«
»War Shamila eine von diesen sechs?«, fragte Martin.
Johann war überrascht. »Ja. Sie war irgendwo im Himalaya unterwegs, als Darius die Paladine zusammenrief, daher kam sie erst mit Jessica zurück. Woher …?«
»Ich … habe sie gesehen, in einer Vision«, erklärte Tristan.
Johann zog die Brauen hoch. »Eine Vision? Ich dachte du wüsstest gar nichts …«
»Es war ein Versehen. Ich hab sie in einem Raum liegen sehen, Blut auf dem Boden, und ihr Genick war gebrochen.«
Johann sog scharf die Luft ein und rieb sich über den Bart. Dann erhob er sich unvermittelt. »Verzeiht, aber dass du Shamila gesehen hast, verlangt sofortige Maßnahmen. Und ihr seid ohnehin sicher müde und hungrig von der Reise.« Er wandte sich zu dem Durchgang hinter ihm. »Keldra, Tiana?«
Ein junges Mädchen, ungefähr in Tristans Alter, kam herbeigeeilt und verneigte sich tief. Auch Keldra trat in den Raum, blieb aber zurück, als Johann das Mädchen zu sich winkte. Es war recht groß, hatte glatte schwarze Haare, die bis knapp über die Schultern reichten, und ein rundliches, freundliches Gesicht mit vielen Sommersprossen.
»Bitte sorge dafür, dass Martin und Tristan eine Unterkunft und etwas zu essen bekommen«, wies Johann sie an. »Ruht euch aus, wir sehen uns dann heute Abend«, setzte er an Martin und Tristan gewandt hinzu. Damit ließ er die beiden stehen und schlurfte zu Keldra hinüber, legte einen Arm um sie und führte sie zu dem Durchgang.
Kaum dass sie hinter der Wand verschwunden waren, hörten sie einen kurzen, klagenden Aufschrei und Tristan spürte ein schlechtes Gewissen, weil indirekt er die traurige Nachricht überbracht hatte.
Tiana öffnete kurz den Mund, um eine Frage zu stellen, besann sich dann aber eines Besseren und führte die beiden zurück zum Eingang, von dort nach links durch eine Arkade mit schmalen Säulen hin zu einem Treppenhaus, durch das man ins Obergeschoss gelangte. Dort gab es eine Vielzahl kleiner Gemächer, jedes mit einem Bett und einem Schrank, und sie wies Martin und Tristan jeweils eines zu.
»Ich bringe euch gleich etwas zu essen, edler Paladin«, sagte sie zu Tristan. Dann schloss sie die Tür und ließ ihn allein.
Tristan setzte sich auf das Bett und zog
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