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Verschollen

Titel: Verschollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Smedberg
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Reise war ihm ganz schlecht vor Erschöpfung gewesen.
    Außerdem gab es keinen Grund, die Ereignisse voranzutreiben. Er konnte warten und die Umstände und den Zufall Regie führen lassen. Nichts konnte ihn mehr zu Fall bringen. Selbst wenn man nach ihm suchen würde, könnte man ihn nicht finden. Keiner konnte ihn sehen.
    Das hatte er gespürt, als er zum Kahlschlag zurückgekehrt war. Seinen Wagen hatte er an der nahezu gleichen Stelle wie letztes Mal stehen lassen, ohne den Versuch zu unternehmen, ihn zu verbergen. Dann war er zu den Gräbern gegangen. Gleichgültig, unachtsam war er davorgestanden und hatte auf sie hinuntergesehen. Er war aufs Neue unsichtbar geworden.
    Später war er die steile Böschung hinauf zum Bergkamm gestiegen, der in sechshundert Metern Entfernung aufragte. Kurz vor dem Ziel hatte er plötzlich angehalten und war auf die Knie gesunken.
    Sein Atem ging schnell und stoßend, wie nach einem Lauf. Wieder war dieser Schmerz aufgelodert und durch seinen Körper geschossen. Nein, es war nichts. Alles nur Einbildung. Nichts anderes. Er hatte gar nichts gespürt.
    Mühsam richtete er sich wieder auf und setzte seinen Weg zu der Höhle fort. Schritt für Schritt. Erneut sank er auf die Knie und begann, das Gestrüpp und die Zweige zu entfernen. Alles war verfault, verwittert und von Flechten und Heidekraut bewachsen, das sich um den Schieferstein herumrankte, den er damals vor den Eingang geschoben hatte. Er griff danach, schleuderte ihn beiseite und ließ ihn den Berg hinunterrollen. Dann holte er die Lampe aus der Innentasche und zwängte sich in die Öffnung hinein.
    Der Gang verlief in einer leichten Schräge nach unten. Das Gestein war rutschig von Eis und Feuchtigkeit. Mit Händen und Ellenbogen stützte er sich gegen den Felsen. Nach wenigen Metern fiel der Gang plötzlich steil ab. Bis hierher hatte er sich mit geschlossenen Augen in der Dunkelheit bewegt. Jetzt erst holte er die Taschenlampe hervor und knipste sie an.
    Unter ihm lag das metertiefe Wasserbassin, in denen sich die Bächlein und Rinnsale von der Oberfläche mit einem Strom aus dem Berginneren vereinigten, der das Wasser ständig in Bewegung hielt, sodass es niemals gefror. Er ließ den Lichtkegel über die schwarze Wasseroberfläche tanzen, rutschte noch ein Stück weiter vor und sah hinunter.
    Sie war nicht da.
    Er wusste nicht, ob er Erstaunen oder Erleichterung verspüren sollte. Dann hob er den Blick zur gegenüberliegenden Wand, zuckte zusammen und ließ die Taschenlampe fallen. Sie schlug gegen den Felsen unter ihm und verschwand im Wasser. Eine Weile noch leuchtete sie schwach unter der Oberfläche, dann erlosch sie ganz. Er begann verzweifelt zurückzurobben, rutschte aus, verlor den Halt und dachte für eine Sekunde, er würde hinunterstürzen, von einem unwiderstehlichen Sog ins Wasser gezogen werden.
    Er holte tief Luft und zwang sich, ganz still zu liegen, ehe er einen neuen Versuch startete. Unendlich langsam, Zentimeter für Zentimeter schob er sich rückwärts zum Ausgang.
    Lange lag er vornüber im Schnee. Er spürte, wie die Kälte durch seine Kleidung drang, doch er war zu keiner Reaktion fähig. Irgendwie schien diese Kälte ihn dort draußen festzuhalten, ihn davor zu bewahren, wieder in die Höhle hineingesogen zu werden.
    Nach einiger Zeit holte er tief Luft, drehte sich mit größter Kraftanstrengung auf die Seite und drückte sich vorsichtig hoch. Auf dem Boden sitzend starrte er vor sich hin. Was hatte er gesehen? Ihren Körper - oder das, was davon übrig war -, zusammengekauert auf der anderen Seite der Höhle. So als wäre sie noch eine Zeit lang am Leben gewesen, als hätte sie versucht, sich aus dem Wasser zu stemmen und einen Fluchtweg zu finden. Auf dem Schädel hatten noch vereinzelte Strähnen ihrer schwarzen Haare geklebt. Die leeren Augenhöhlen hatten ihn angestarrt.
    Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er gar nichts gesehen, sondern sich nur alles eingebildet, in dem schwachen Licht der Taschenlampe?
    Dann sprang er mit einem Mal auf. Eine rasende Wut flammte in ihm auf. Was hatte er denn erwartet? Hatte er wirklich geglaubt, sie würde dort sitzen, den Kopf ein wenig schräg gehalten, und ihn mit ihrem Lächeln ansehen, das er nie zu deuten gewusst hatte?
    Er zwang sich zur Ruhe und ging zu dem Eingang der Höhle zurück. Unachtsam schob er etwas Gestrüpp davor, sodass es notdürftig den Spalt verdeckte. Dann drehte er sich um und ging den Abhang hinunter zurück zum Kahlschlag.

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