Verschwiegen: Thriller (German Edition)
unbegrenzte Anzahl von Einsprüchen unter Angabe eines Grundes für die vermeintliche Voreingenommenheit eines Kandidaten. Und trotzdem wusste man niemals, was am Ende herauskam. Es gibt teure Experten, die behaupten, man könne die Raterei mithilfe von Zielgruppenforschung, psychologischen Profilen und Statistik in den Griff bekommen. Aber vorauszusehen, wie ein Fremder auf Grundlage bestimmter Fragen in einem bestimmten Fall urteilen wird, hat mehr mit Bauchgefühl als mit Wissenschaft zu tun, zumal in Massachusetts die Einvernahme der Geschworenen streng geregelt ist. Trotzdem versuchten wir, uns ein paar Vorteile zu verschaffen. Wir achteten auf den Bildungsgrad; wir bevorzugten Leute, die in einer ähnlichen sozialen Umgebung wie unserer lebten und für Jacobs Hintergrund Verständnis haben würden; wir wählten nüchterne Berufsgruppen wie Buchhalter, Ingenieure, Programmierer. Logiudice bevorzugte Arbeiter, Eltern und Leute, die über das Verbrechen entsetzt waren und leicht überzeugt werden konnten, dass ein Teenager wegen einer Nichtigkeit einen Mord begangen hatte.
Zwei Stunden später stand unsere Jury.
Wir gaben den Geschworenen Spitznamen, damit wir sie uns besser einprägen konnten: die Lehrerin (eine Vorarbeiterin), Mädchen mit Brille, Großvater, dicker Typ aus Somerville, Leiter Aufnahmestudio, Freak mit dicker Brille, Kanal (eine Frau, die in Panama geboren war), Mama aus Waltham, Kellnerin, Bauarbeiter (ein Verleger von Holzfußböden und bissiger Typ, dem wir von Anfang an misstrauten), Hausfrau aus Concord, Lastwagenfahrer (er fuhr für eine Lebensmittelkette die Ware aus), Frau mit Zahnspange (Ersatz) und Barmann (Ersatz). Außer der Tatsache, dass ihnen für den Job wirklich jede Qualifikation fehlte, hatten diese Geschworenen nichts gemein. Es war fast schon komisch, festzustellen, dass sie von der Justiz und wie sie funktionierte wirklich keinen blassen Schimmer hatten, und auch nicht von dem Fall, der immerhin durch alle Zeitungen gegangen war. Und genau deswegen saßen sie hier – weil sie keine Ahnung hatten. Am Ende legen Anwälte und Richter das Verfahren in Laienhände. Wenn es nicht so pervers wäre, dann hätte es etwas Komisches. Was für ein Zirkus. Das muss auch Jacobs Gedanke gewesen sein, als er sich diese vierzehn ahnungslosen Gesichter ansah. Die Lüge der Justiz, nämlich dass sich die Wahrheit zuverlässig ermitteln lässt, dass sich zweifelsfrei entscheiden lässt, wer schuldig ist und wer nicht, ist auf einer Ungeheuerlichkeit errichtet: Man hat mehr als tausend Jahre am Justizsystem herumgeschliffen, um es immer weiter zu verbessern, und trotzdem sind Richter und Anwälte bei der Wahrheitsfindung angeblich nicht kompetenter als ein Dutzend Leute, die man von der Straße geholt hat. Jacob muss es bei dieser Vorstellung kalt den Rücken hinuntergelaufen sein.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Unter Beobachtung
An jenem Abend saßen wir in der sicheren Abgeschiedenheit unserer Küche und plauderten aufgeregt. Die Worte purzelten nur so aus uns heraus, Worte der Angst und der Zuversicht.
Laurie gab sich alle Mühe, das Gespräch am Laufen zu halten. Sie war von der schlaflosen letzten Nacht und dem langen Tag erschöpft, aber sie glaubte fest daran, dass es gut war, viel miteinander zu reden. Also stellte sie Fragen, gestand Befürchtungen ein, reichte immer wieder Teller mit Essen herum und sorgte dafür, dass wir weiterredeten. In jenen Augenblicken blitzte die frühere, lebhafte Laurie auf oder besser, sie war in ihrer Stimme zu hören. Denn ihre Stimme war jung geblieben. In jeder anderen Hinsicht war Laurie während Jacobs Krise müde und alt geworden: Ihre Augen waren eingesunken und flackerten unruhig, ihre Pfirsichhaut war welk und faltig geworden. Doch ihre Stimme hatte sich wunderbarerweise nicht verändert. Wenn sie sprach, hörte ich immer noch die Stimme von damals, von vor fast fünfunddreißig Jahren. Es war wie ein Anruf aus dem Jahr 1974.
»Die mochten mich nicht, so wie die mich angeschaut haben«, meinte Jacob irgendwann im Hinblick auf die Geschworenen.
»Das war heute der erste Tag, Jacob. Lass ihnen etwas Zeit. Bisher wissen sie von dir nur, dass du des Mordes angeklagt bist. Was erwartest du da?«
»Dass sie noch keine Meinung haben.«
»Das sind Menschen, Jake. Du darfst ihnen einfach keinen Grund zur Ablehnung geben. Bleib ruhig. Zeig keine Reaktion. Und mach nicht dein Gesicht.«
»Was für ein Gesicht?«
»Wenn du unaufmerksam bist, machst
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