Verschwoerung der Frauen
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hatte. Kate bewunderte die Geschicklichkeit, mit der Gabrielle dies in ihrem Roman herausgearbeitet hatte: Sie schien jedes Detail über Evans’ Entdeckungen der antiken kretischen Kultur gelesen zu haben.
Gabrielles Kreta war eine Kultur, die die Gewalt und Brutalität fremdländischer Männer fürchtete. Kreta war ein Matriarchat, in dem es Priesterinnen und eine Königin gab. Aber die kretischen Männer waren keineswegs unterdrückt: Sie waren weder Sklaven noch Bei-schläfer, weder ausschließlich für die Hausarbeit zuständig noch schiere Objekte von Lust und Begierde. Sie führten auf Kreta ein erfülltes Leben, waren sportlich, künstlerisch, sanft und voller Vitalität. Gabrielle machte deutlich, daß sich Männlichkeit auf Kreta nicht durch Gewalt ausdrückte, schon gar nicht durch Gewalt gegen Frauen oder Schwächere. Die kretische Kultur weiß, daß andere Natio-nen, besonders Griechenland, männliche Brutalität und Grausamkeit honorieren und ihre Männer ausschicken, um Kriegsbeute zu machen, in Form von Vergewaltigungen, Blutbädern und der Zerstö-
rung anderer Länder.
In früheren Jahren hatte Kreta als Preis dafür, daß es anderen Na-tionen erlaubte, seine Gewässer zu durchqueren, einen jährlichen Tribut von sieben Jünglingen und sieben Jungfrauen gefordert, die auf Kreta blieben und mit der Bevölkerung lebten. Diese Jugendlichen waren keine Opfer; sie waren herzlich willkommen und berei-cherten das genetische Potential. Ohne es benennen zu können, erkannten die Herrscher Kretas die Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung mit frischem Blut, oder, wie wir heute sagen würden, mit frischem genetischem Potential, zu versorgen. Jene Jugendlichen, Knaben wie Mädchen, die als Stierspringer ihre akrobatischen Kunststücke auf Stierhörnern vollführten – der Stier war für die Kreter das männliche Fruchtbarkeitssymbol und zugleich der höchste Tiergott und Gemahl der Königin –, lehrten die Kreter neue Fertig-keiten und gaben ihnen Zuversicht. Diese Jugendlichen waren weder zum Untergang bestimmt noch seelenlose Tribute, wie die griechischen Mythen es darstellen.
Aber diese alte kretische Kultur im Palast von Knossos fürchtete nun ihre Zerstörung durch die gewalttätigen Griechen, an deren Spitze Theseus stand. Konnte Ariadne sie überlisten? Während Emmanuels moderne Verarbeitung des Stoffes sich am griechischen Mythos orientierte – ohne sich jedoch je offen auf ihn zu beziehen oder ihn zu interpretieren –, begann Gabrielles Roman in jenem histori-165
schen Moment, ehe die griechische Mythenbildung einsetzte. Kate hatte inzwischen genug von dem Manuskript gelesen, um zu wissen, daß nach dem ersten Teil, der in jenen frühgeschichtlichen Zeiten spielt, die vor über einem Jahrhundert von Evans wiederentdeckt und rekonstruiert worden waren, der Hauptteil des Romans in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verlagert wird, wo Ariadne, nun in Artemisia umbenannt, wiederum auf die Gestalt wartet, die Emmanuel Foxx Theseus nachgebildet hat.
Aber zu Beginn von Gabrielles Roman bittet die kretische Ariadne, die kraft ihrer prophetischen Gabe um die drohende Zerstörung ihrer Heimat und ihrer Kultur weiß, Dädalus um Rat, so wie es ihre Mutter zuvor getan hatte. Dädalus will keine Rolle in der sich nun entfaltenden männerzentrierten griechischen Welt. Sein Sohn Ikarus berauscht sich an der Vorstellung, in einem Patriarchat zu leben und Kriege zu führen, und Dädalus muß zusehen, wie sein Sohn, voll neuerworbenem Männerstolz, der Sonne zu nahe kommt und seine Wachsflügel schmelzen, die er seinem Vater gestohlen hat. Dädalus hatte gewußt, daß sein Sohn sie ihm gestohlen hatte, hatte gewußt, daß Ikarus, bliebe er am Leben, alle verraten würde. Und Ariadne lernt daraus, daß die griechischen Männer und ihresgleichen sich am Ende selbst zerstören, aber vielleicht erst, nachdem sie die ganze Erde zerstört haben.
Dädalus hat nicht genug Zeit, Ariadne alles zu erzählen, was er weiß. Kreta wird erobert werden; es gibt keinen Weg, dem Verhängnis zu entgehen. Die alten Sitten werden untergehen, die Frauen versklavt oder zu machtlosen Objekten männlicher Begierde degra-diert. Auch andere Völker, denen die Griechen sich überlegen fühlten, würden versklavt. Während sie ihm zuhört, verzweifelt Ariadne.
Dädalus erklärt, es gebe nur einen Ausweg: Theseus müsse sich in der Gewißheit wähnen, er habe leicht gesiegt, und Ariadnes Liebe habe ihm diesen Sieg
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