Verschwoerung der Frauen
ermöglicht. Dann werde er sie und Phaedra fortführen, und dann könne Phaedra ihre Bestimmung erfüllen: Sie muß Theseus veranlassen, seinen Sohn zu töten, der die Verkörperung männlicher Selbstverherrlichung ist, um auf diese Weise großes Leid abzuwenden und seine Mutter Hippolyta zu rächen. Auch Hippolyta ist eine Zukunft bestimmt, im Gegensatz zu den Darstellungen der griechischen Mythologie.
Ariadne muß Theseus Lust vorspielen und ihm erlauben, sie fort-zuführen. Ist sie erst einmal auf seinem Schiff, muß sie ihn in solchen Schrecken versetzen, daß er sie auf Dia, einer kretischen Insel, 166
an Land bringt, wo Dionysos ihr zu Hilfe eilt und ihr Überleben und ihre schließliche Rückkehr sichert. Sehr spät werde diese Rückkehr stattfinden, sagt Dädalus, aber sie sei gewiß.
Ariadne folgt Dädalus’ Rat. Um Theseus in Schrecken zu versetzen, spielt sie ihm einen Anfall von Wahnsinn vor. Wie Theseus gehört hatte, neigen Frauen zu derlei Ausbrüchen. Ariadne rast und verlangt nach Männerfleisch, um sich ein Festmahl zu bereiten. Ihre Schauspielerei ist überzeugend – so überzeugend, daß sie sich am Schluß selbst fürchtet. Nachts segelt Theseus an Land, setzt sie auf der Insel Dia ab und erzählt seiner Mannschaft, er werde sie am nächsten Tag abholen. Am nächsten Tag tut er jedoch so, als habe er sie vergessen. Seine Männer, die durch das, was sie gesehen oder von anderen gehört haben, vom Entsetzen gepackt sind, erinnern Theseus nicht. Ist Ariadne daran schuld, daß er vergessen hat, seine schwarzen Segel gegen weiße auszutauschen und so seinem Vater zu signalisieren, daß er lebend zurückkehrt? Nein, nicht Ariadne, sondern Theseus selbst ist es, der begierig darauf ist, den Platz seines Vaters einzunehmen und unter der Herrscherfahne zu segeln.
So endete der erste Teil. Kate vertiefte sich sofort in den zweiten, der wiederum so begann wie in Emmanuels Roman, nämlich in dem Moment, als die moderne Heldin auf die Ankunft der Theseus-Figur wartet. Gabrielles moderne Heldin, Artemisia, weiß, daß die Zeit für eine Wiederbelebung der mikenischen Kultur gekommen ist. Wie Joyces Stephen Dedalus betet Artemisia: »Urvater, uralter Artifex, steh hinter mir, jetzt und immerdar.« Sie leiht sich Joyces Worte, um zu sagen: »Willkommen Leben! Als millionster zieh ich aus, um die Wirklichkeit der Erfahrung zu finden und in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffne Gewissen meines Volkes zu schmieden.«
Gabrielle hatte auch Joyce gelesen.
Einige Tage nach ihrer Heimkehr, als sie sich allmählich wieder in ihre alten Lebensbahnen einfand, die ihr jedoch immer noch eigenartig unvertraut vorkamen – unzählige Briefe waren zu beantworten, zeitaufwendige Telefonate zu führen, und überhaupt mußte wieder irgendeine Ordnung in ihre Angelegenheiten gebracht werden –, fand Kate die Ruhe, Reed alles über die vor ihr liegende Entscheidung zu erzählen. Mittlerweile hatte sie Gabrielles Roman ein zweites Mal gelesen, und auf eigenartige Weise schien er ihr große Kraft gegeben zu haben. Das versuchte sie Reed zu erklären.
»Wahrscheinlich bin ich meschugge, aber dieses Gefühl kenne ich ja schon allzugut, seit ich Gabrielle und allen, die mit ihr zu tun 167
gehabt haben, begegnet bin. Ich meine, selbst Simon Pearlstine tauchte auf wie eine Gestalt aus dem Nirgendwo, wie ein Besucher von einem anderen Stern.«
»Zuerst dein Entschluß«, sagte Reed. »Erklärungen und Entschuldigungen später.«
»Zu einem Entschluß bin ich ja eben noch nicht gekommen. Und wenn ich Erklärungen und Entschuldigungen fortlassen soll, bleibt mir nur noch eine Frage.«
»Dann stell sie.«
»Soll ich dieses verrückte Buch herausgeben und ein biographisches Porträt schreiben, und was soll ich Simon erzählen?«
»Das sind gleich drei Fragen. Willst du das Buch herausgeben?
Nein, laß mich anders fragen: Worum geht es deiner Meinung nach in dem Buch?«
»Ich hasse Leute, die fragen, worum es in einem Roman geht«, antwortete Kate leicht gereizt.
»Worum geht es in dem Roman, den du einmal brillant und dann wieder schrecklich und lächerlich findest – je nachdem, in welcher Stimmung und wie nüchtern du bist?«
»Er ist seiner Zeit so unglaublich weit voraus. Und geschrieben wurde er schließlich auf dem Höhepunkt der klassischen Moderne, jedenfalls nicht lange danach. Wann genau er entstand, weiß zwar niemand, mit Sicherheit aber nicht vor den 20er Jahren, als Emmanuel Foxx an seiner ›Ariadne‹
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