Verschwörung in Florenz
Rezeption.
»Das hat ein Bote vor etwa einer halben Stunde für Sie abgegeben, Signora Niemeyer«, sagte der Portier und reichte Anne einen Umschlag und eine kleine Karte. Es war Giancarlos Visitenkarte.
»Danke«, sagte sie überrascht und drehte die Karte um. Auf der Rückseite stand etwas in Giancarlos charaktervoller Schrift. »Ich hatte Erfolg. Wir sehen uns heute Abend auf dem Fest, Giancarlo.«
Ich wusste, dass er es schafft, dachte Anne triumphierend. Dass er offensichtlich selbst eingeladen war, überraschte sie keinesfalls. Es gab keine rauschenden Feste in der Toskana ohne seine Anwesenheit.
Dann betrachtete sie den Umschlag. Es war ein schmales, längliches Kuvert aus handgeschöpftem Büttenpapier. Ihr Name war in verschnörkelten goldenen Buchstaben geschrieben, wie sie oft in alten Büchern als Anfangsbuchstaben vorkamen. Der Briefumschlag war mit einem Siegel aus rotem Wachs verschlossen, das eine liegende Acht in einem Kranz von Sternen darstellte. Vorsichtig öffnete sie das Siegel und holte einen zusammengefalteten Bogen Büttenpapier heraus, das ungewöhnlich gut duftete, so als wäre es parfümiert worden. Allerdings war die Duftnote für einen italienischen Mann eher ungewöhnlich, denn es roch so köstlich nach Veilchen und Mandeln wie in der Backstube eines der besten Konditoren der Welt. Anne nahm noch einmal voller Genuss diesen Duft in sich auf, dann begann sie den in vornehmem, etwas altmodischem Italienisch geschriebenen Brief zu lesen.
»Sehr geehrte Signora Niemeyer,
ich freue mich, Sie heute Abend auf meinem kleinen Kostümfest anlässlich des Calcio in Costume begrüßen zu dürfen. Um 19.45 Uhr wird der Chauffeur Sie in Ihrem Hotel abholen. Wenn Sie dem Türsteher am Eingang diese Einladung zeigen, wird man Sie in die Festsäle geleiten. Um ein dem Anlass angemessenes Kostüm zu erhalten, empfehle ich Ihnen den Kostümverleih von Saverio, Via del Lungo Nr. 34. Dort wird man Ihnen gewiss etwas Passendes geben können. Ihr Erscheinen wird mir eine Ehre sein.
Ihr ergebener
Cosimo Mecidea.«
»Was ist das für ein Brief?«, fragte Thorsten, der allmählich aufzuwachen schien.
»Es ist tatsächlich eine Einladung zu diesem Kostümfest, von dem Giancarlo uns gestern erzählt hat«, sagte Anne, faltete das Papier sorgfältig zusammen und steckte es in ihre Handtasche.
»Ein Kostümfest?«, fragte Thorsten und machte ein Gesicht, als ob man ihn zwingen wollte, Erbsensuppe aus einer Toilettenschüssel zu essen. »Du meinst mit Verkleiden und dem ganzen Zeug? Muss ich da etwa dabei sein?«
Anne schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Thorsten, du brauchst nicht mitzukommen. Die Einladung gilt nur für mich. Und wenn ich Giancarlo gestern richtig verstanden habe, sieht Signor Mecidea es ohnehin nicht gern, wenn seine Gäste ihre Freunde mitbringen. Und jetzt lass uns losgehen, damit wir uns noch den mittelalterlichen Markt anschauen können.«
Der mittelalterliche Markt war enttäuschend und faszinierend zugleich. Enttäuschend, weil er sich kaum von anderen mittelalterlichen Märkten unterschied, die Anne aus Deutschland kannte. Statt der üblichen Buden und Marktwagen hatten die Händler ihre Stände aus Holzstangen errichtet und mit Planen aus Sackleinen bedeckt. Auf den einfachen Tischen aus unbehandeltem Holz lagen grob gewebte Tuche, Schmuck oder Schnitzereien ausgebreitet, und man konnte dem Schuster, dem Waffenschmied, der Spinnerin und den anderen Handwerkern bei ihrer Arbeit über die Schulter gucken. Alle Händler – und auch einige »Kunden« – waren in altertümliche Kostüme gekleidet und sprachen ein altes, schwer verständliches Italienisch. Es waren Schauspieler, die sich wie die Spieler in einem Fantasy-Rollenspiel für ein Wochenende in eine andere Welt begeben hatten. Viele von ihnen schienen auch nur halbherzig bei der Sache zu sein, denn Anne sah eine ganze Reihe von jungen Leuten, die offensichtlich der Meinung waren, dass Turnschuhe im Mittelalter nicht auffallen würden. Sie kauten nach Herzenslust Kaugummi, und unter manchem männlichen Hut blitzten Ohrringe und gepiercte Augenbrauen hervor.
Trotz dieser Kritik am Detail war Anne fasziniert, denn von allen mittelalterlichen Märkten, die sie bislang besucht hatte, war dies der erste, bei dem die Kulisse fast bis ins letzte Detail stimmte. Die Piazza della Signoria zu Füßen des Palazzo Vecchio war an diesem Wochenende für das Alltagsleben gesperrt. Weit und breit war kein einziges Auto zu sehen oder zu
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