Verschwörungsmelange
auf die Uhr. Sie nahm sich eine
Gratiszeitung und fächelte sich damit ein wenig Luft zu. Korber blieb in
angemessener Entfernung stehen. Ein Zug fuhr ein.
Alles drängte in die Waggons. Woher waren auf einmal die
ganzen Leute gekommen? Unvorstellbar, wie viele Menschen in ein, zwei Minuten
auf einen Bahnsteig gespieen werden konnten. Eine kurze Hast und Unruhe
entstanden, während Korber versuchte, mit Bettina wieder auf Tuchfühlung zu
kommen. Dabei roch er den Schweiß der anderen. Noch schlimmer, er bemerkte,
dass er selbst schwitzte und ahnte, dass er vor der Nachhilfestunde keine
Möglichkeit mehr haben würde, sich wieder frisch zu machen.
Die Zeit rückte unbarmherzig vor. Korber memorierte in
Gedanken das Nachtgedicht, welches er Manuela Stary vorzutragen gedachte.
Wenigstens das sollte an diesem verunglückten Nachmittag klappen. Die Zeilen
tanzten in seinem Kopf hin und her, er hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
Beinahe hätte er versäumt, wie sich Bettina Ehrentraut zurück zur Ausstiegstüre
begab. Im letzten Augenblick hetzte er hinter ihr auf den Bahnsteig hinaus. Sie
waren jetzt jenseits der Donau beim Millennium Tower angelangt.
Korber wurde ungeduldig. ›Tut sich jetzt bald was, oder tut
sich nichts?‹, dachte er.
Bettina trippelte erneut etwas schneller, beinahe
erwartungsfroh die Stiegen hinunter, Korber in einigem Abstand hinterher. Und
dann, unten, traf sie auf das Objekt ihrer Begierde. Es war ein nicht mehr ganz
taufrischer, leicht ergrauter, aber sportlicher Mann mit Sonnenbrille. Sie
lächelte ihn an, er lächelte zurück.
Korber hantierte zunächst ein wenig ungeschickt mit der
Kamera herum, immer darauf bedacht, dass ja niemand Verdacht schöpfte. Obwohl
er bisher kaum Fotos mit digitalen Apparaten gemacht hatte, fabrizierte er doch
zwei einigermaßen scharfe Aufnahmen von dem Pärchen. Auf einem dritten Bild war
später sogar ein inniger Kuss zu sehen.
6
Thomas Korber kam ein wenig aufgelöst zur
Nachhilfe bei den Starys an. Er hatte sich schnell ein Deodorant aus einem
Drogerieladen besorgt und notdürftig parfümiert. Dennoch: Das Hemd klebte an
ihm, er hatte nach wie vor das Gefühl, ein gewisses Odeur auszustrahlen, und in
seiner rechten Hand hielt er einen Fotoapparat, bei dem er nicht so richtig
wusste, wo er ihn hintun sollte.
In der Nachhilfestunde tat er dann das, was er am besten
konnte. Wie ein Betreuer oder Coach führte er Reinhard Stary beinahe zwanglos
an die Dinge heran, die er eigentlich schon konnte, die aber durch die eine
oder andere Irritation in seinem Seelenleben in Vergessenheit geraten waren.
Bis zur Prüfung würde alles wieder seinen rechten Platz in Reinhards Hirn eingenommen
haben.
Danach kam der für Korber schwierigere Teil: Lyrikstunde mit
Manuela Stary. Zwar machte Reinhard die erwarteten Mucken, als es hieß, zum
Training zu gehen, aber seine Mutter bekam die Sache rasch in den Griff.
»Du hast das Training gestern ohnedies geschwänzt«, sagte
sie. »Das kommt heute überhaupt nicht infrage. Du darfst deinen Vater nicht
enttäuschen, nicht jetzt, in dieser Situation.«
Das wirkte. Reinhard packte seine Sachen zusammen und ging.
»Das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt«, wandte sich
Manuela dann an Korber. »Du weißt sicher schon, dass dieser Ehrentraut in der
Nacht erstochen wurde. Eine furchtbare Geschichte. Jetzt suchen sie bei der
Eintracht jemanden, der für ihn die Geschäfte weiterführt. Ich glaube, es gibt
da noch eine außerordentliche Vorstandssitzung, aber es ist so gut wie sicher,
dass Klaus das Amt übernimmt.«
»Ist ja toll«, entfuhr es Korber.
»Nicht wahr? Ich bin ganz aufgeregt. Deshalb sollen Klaus und
ich auch heute Abend mit dem Amerikaner essen gehen. Er will, dass gleich von
Anfang an eine familiäre Atmosphäre entsteht.«
›Wie mag das wohl wieder zugegangen sein, dass dieser Stary
plötzlich am Ruder sitzt?‹, dachte Korber. Er sagte: »Da bist du ja sicher
ziemlich im Stress. Ich will dich nicht länger stören.«
»Aber du störst ja nicht«, fiel ihm Manuela ins Wort. »Ich
habe jetzt bloß nichts Ordentliches zum Essen für dich da. Heute müssen es ein
paar kalte Kleinigkeiten für dich tun.« Sie öffnete den Kühlschrank und nahm
einen bereits sorgsam vorher vorbereiteten Teller heraus, auf dem unter einer
Plastikfolie Wurst, Speck und Käse fein mit Tomaten und Paprika garniert lagen.
»Brot? Senf? Mayonnaise?«, fragte sie
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