Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
zögerte er, was zu tun sei.
Der Pfarrer war schon dabei, die furchterregenden Worte über die persönliche Verantwortung laut vorzutragen: »… Es prüfe sich darum ein jeder Mensch, und so esse er von diesem Brot, und so trinke er von diesem Wein, denn wer als Unwürdiger isst und trinkt, der zieht mit Speise und Trank Verdammnis auf sich …«
Er hörte stehend zu. Er blickte in sich, wie er es so aufrichtig und demütig noch nie getan hatte. Er durchging sein ganzes Leben. Nach seinen Taten war er schuldig, zweifellos. Doch nicht nach seinen Beweggründen. Mit seinem ganzen Willen, mit jeder Nervenfaser und jedem Gedanken strebte er danach, die Lage, in der sich Adrienne und er selber befanden, ehrenhaft zu lösen. Ihre Absicht war niemals niedrig gewesen. Und in ihrer neu belebten Liebe suchten sie den Weg, der jedem Gesetz entspricht, und sie wünschten sich einen Erben, der ein ergebener Diener seiner Nation und seines Glaubens werden sollte. Und wie er so forschend in sich blickte, glaubte er zu spüren, dass ihm jener, der sich mit Sündern und Zöllnern an den Tisch gesetzt und die buhlerische Frau vor dem Tod bewahrt hatte, seine Unwürdigkeit verzeihe.
Der Pastor reichte ihm den Kelch. Er beugte sich darüber und legte für sich ein Gelübde ab. Alle Kraft würde er dazu aufbieten, mit der geliebten Frau nicht etwa zu brechen – nein, dessen fühlte er sich unfähig –, sondern dazu, alle Hindernisse zu überwinden, um die Ehe mit Adrienne zu ermöglichen. Und die Worte, die der Pastor zitierte, schienen als Antwort das zu enthalten, wofür er gebetet hatte, das Versprechen des ersehnten Sohns:
»Bittet, und es wird euch gegeben …«
III.
Bálint kam am Nachmittag aus der südöstlichen Eckbastei von Dénestornya zurück. Dies war der älteste Turm des Schlosses. Man hatte ihn bereits vor dem Mongolensturm erbaut. Zu Zeiten, da er noch einsam über dem Abgrund gestanden war, hatte er der Festung den Namen gegeben. Auch sein Grundriss unterschied sich von den übrigen Türmen; seine Mauern bestanden größtenteils aus massiven Bruchsteinen und waren dicker als die der anderen, obwohl auch diese etwa anderthalb Klafter maßen, und Fenster gab es auf der unteren Ebene überhaupt keine. Hier war das Archiv untergebracht. Schubladengestelle, alle aus fahl gewordenem Tannenholz, füllten die Gewölbe aus, bezeichnet mit Buchstaben von A bis Z. Man verwahrte hier die Urkunden. Eine riesige Mappe lag auf einem breiten Eichentisch in der Mitte des Raumes. Darin hatte man die einstigen Grundrisse des Schlosses und die alten Umbaupläne aus dem 18. und 19. Jahrhundert gesammelt.
Bálint stellte in den Papieren in dieser Mappe Nachforschungen an. Er wollte über die innere Einteilung des Westflügels Klarheit gewinnen. Dort hatte einst sein Uronkel gewohnt. Die Zimmer waren seither unbenutzt. Er erwog, sie nach seiner Verheiratung zu beziehen; die Räume freilich sollten gemäß heutigen Ansprüchen modernisiert werden. Während er sich die Abänderungen durch den Kopf gehen ließ und sich gerade hinüber begeben wollte, um die Wohnstätte auch richtig zu besichtigen, ertönte vor dem Tor des hufeisenförmigen Hofs das Horn eines Automobils. Er blickte hinaus.
Der Wagen fuhr schwungvoll herein und stand schon nach einigen Augenblicken vor der Haupttreppe. Es war ein karmesinrotes, nagelneues Auto. Zu seiner Verblüffung entstiegen ihm Dinóra Malhuysen und Dr. Zsigmond Boros. Dinóra?! Dinóra hier?! Sie, die seit dem Ausbruch des Skandals vor zwei Jahren keine Besuche mehr machte, da sie, wie unbedarft auch immer, doch wohl wusste, dass man sie nirgends empfangen würde. Die Arme hatte die Wechsel ihres Geliebten, Oberleutnant Wickwitz, mit ihrem Giro versehen, und als dieser dann flüchtete, kam alles ans Tageslicht; ihr Mann, Tihamér Abonyi, ließ sich scheiden, sie selber aber blieb geächtet und mit einem Berg von Schulden da. Seither, so hieß es, hielt sie sich nur noch selten auf ihrem Gut im benachbarten Marosszilvás auf, sie wohnte eher in Budapest oder sonstwo. Und jetzt war sie zu Besuch bei seiner Mutter?
Sie trat ohne jedes Zögern zum Tor herein, als wüsste sie, dass sie erwartet werde. Tatsächlich, für Frau Róza bedeutete Dinóras Besuch keine Überraschung. Sie hatte sie eingeladen, ihr geschrieben, dass ihre Visite ihr willkommen wäre. Frau Abády hegte ganz eigenständige Ansichten. Sie, die früh Verwitwete, war dem Andenken ihres Mannes stets treu geblieben, und nie hatte ein
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