Verstohlene Kuesse
ist?« Polly nickte eifrig mit dem Kopf. »Genau. Aber wie gesagt, ich habe ihr also eine Tasse Tee raufbringen wollen. Als ich den Flur herunterkam, sah ich, dass Mr. Ware aus diesem Zimmer kam. Er hatte ein ganz ernstes Gesicht. Als er mich sah, sagte er, Lady Ware wäre im Schlaf gestorben. Er sagte, er würde die notwendigen Vorkehrungen treffen und den Haushalt informieren.«
»Tja, schließlich ist es nicht so, als ob sie überraschend gestorben wäre«, stellte Letty philosophisch fest.
»Nein, Ma'am«, pflichtete Polly ihr mit ernster Miene bei. »Wir alle haben uns sowieso gefragt, wie sie so lange durchgehalten hat. Tja, ich kam also hier in das Zimmer und habe ihr gerade die Decke über das Gesicht gezogen, als das Seltsame geschah.«
»Nun?«, drängte Letty sie. »Was geschah denn nun Seltsames ?«
»Miss Kent kam aus dem Ankleidezimmer geflogen.« Polly nickte in Richtung der Tür, durch die man aus dem Schlafzimmer in die angrenzende Kammer kam. »Sie war vollkommen aufgelöst. Sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen.«
»Vielleicht hatte sie das ja auch«, warf Letty ein. »Den Geist von Lady Ware.«
Emma runzelte die Stirn. »Sie glauben doch sicher nicht an Geister, Letty.«
Letty zuckte mit den Schultern. »Wenn man in mein Alter kommt, lernt man, dass es alle möglichen seltsamen Dinge auf der Erde gibt.«
Emma ging über diese Feststellung hinweg und wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Vielleicht war Miss Kent ganz einfach aufgeregt, weil Lady Ware gestorben war.«
»Aber was hat sie in dem Ankleidezimmer gemacht?« fragte Polly, ehe sie sie sich umgehend selbst beantwortete. »Wissen Sie, was ich denke?«
»Ich bin sicher, dass du es uns gleich sagen wirst«, antwortete Emma ihr.
Polly zwinkerte vielsagend. »Ich denke, sie und der gnädige Herr haben sich drüben im Ankleidezimmer miteinander vergnügt, als Lady Ware gestorben ist. Ich nehme an, es hat Miss Kent einen Heidenschrecken eingejagt, als sie wieder rauskam und sah, dass Lady Ware in der Zwischenzeit den Löffel abgegeben hatte.«
Letty lächelte amüsiert. »Die arme Frau. Entdecken zu müssen, dass die Arbeitgeberin gestorben ist, während sie selbst gerade im Nebenzimmer ein bisschen Spaß hatte, war sicher alles andere als angenehm.«
»Ganz zu schweigen von dem Schock, den es ihr versetzt haben muss, plötzlich arbeitslos zu sein«, murmelte Emma so leise, dass keine der beiden anderen sie verstand.
»Wie gesagt, ein paar Tage später war sie verschwunden.« Pollys Miene wurde wieder angemessen ernst. »Mrs. Gatten hat gesagt, sicher bekäme Miss Kent nie wieder einen derartigen Posten, denn keine Dame mit auch nur einem Funken Anstand im Leib würde eine Gesellschafterin nehmen, die ohne Empfehlungsschreiben kommt.«
Es gab Wege, auf denen sich dieses Problem einfach umgehen ließ, dachte Emma, hielt es allerdings für besser, wenn sie diesen Gedanken in Anwesenheit ihrer momentanen Arbeitgeberin nicht laut aussprach.
Letty schüttelte den Kopf. »Eine junge Frau muss das, was sie besitzt, so einsetzen, dass es sich lohnt. Wenn sie ihre Tugend und ihren Ruf einer kurzen Affäre wegen riskiert, muss sie damit rechnen, dass es mit ihr ein schlimmes Ende nimmt.«
»Trotzdem war es bedauerlich«, sagte Polly aus Richtung der Tür. »Miss Kent war immer gut zu Lady Ware. Sie hat Stunde um Stunde neben ihrem Bett verbracht, obgleich die gnädige Frau es die meiste Zeit wegen des Opiums, das sie gegen ihre Schmerzen nahm, gar nicht mitbekommen hat. Trotzdem hat Miss Kent bei ihr gesessen und gestickt. Dafür hatte sie ein besonderes Talent.«
Stille senkte sich über den Raum, nachdem Polly gegangen war. Emma nutzte sie und dachte über die Gefahren ihres Berufes nach.
»Ich fürchte, diese Geschichte hört man immer wieder«, stellte Letty schließlich fest. »Sicher hat sie tatsächlich keine große Chance auf eine neue Anstellung als Gesellschafterin, wenn sie keine Empfehlung ihrer letzten Arbeitgeberin vorzuweisen hat. Es ist wirklich deprimierend, wenn eine junge Frau das, was sie hat, derart vergeudet, finde ich.«
»Hmm«, antwortete Emma nur. Sie dachte an die Referenzen, die sie sich in den letzten Wochen selbst geschrieben hatte und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Manchmal genügt es schon, wenn man sich den Anschein gibt, dass man über bestimmte Qualitäten oder Vorzüge verfügt.«
Letty zog ihre dünnen, grauen Brauen hoch und ihre leuchtend braunen Augen blitzten vor Belustigung.
»Wenn
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