Verstohlene Kuesse
Mirandas widerlichem Tee getrunken.
All das lächerliche Gerede über ein verschwundenes Buch und legendäre Elixiere hatte die Sorge in ihr wachgerufen, dass ihr neuer Arbeitgeber vielleicht nicht ganz bei Sinnen war.
Aber selbst, wenn es so wäre, wäre er zumindest ein sehr reicher Verrückter, sagte sie sich, während sie müde die Stufen erklomm. Und wenn sie eine Woche als seine Angestellte durchhielte, hätte sie das Dreifache ihres normalen vierteljährlichen Einkommens verdient. Besser also sähe sie Edison Stokes doch als durch und durch vernünftigen, klar denkenden Menschen an.
Sie hatte die zweite Etage erreicht und wappnete sich für den Aufstieg in den dunkleren dritten Stock. Die Bediensteten verschwendeten nicht allzu viele Kerzen auf den düsteren Flügel, in dem ihre kleine Kammer lag.
Die fröhliche Musik und das betrunkene Gelächter aus dem Ballsaal wurden bald schon von den dicken Mauern der alten Burg verschluckt, und als sie schließlich den oberen Stock erreicht hatte, drangen die Geräusche nur noch wie gedämpfte Echos an ihr Ohr. Hingegen hallten ihre Schritte auf dem nackten Steinboden noch lange nach.
Vor der Tür zu ihrem Zimmer blieb sie stehen und öffnete ihr kleines Retikül.
Wieder rann ihr ein kalter Schauder den Rücken hinab. Dieser verdammte Tee . Edison war sich sicher, dass er nicht weiter schädlich war. Was, wenn er sich irrte?
Abgesehen von der Tatsache, dass er ihr Übelkeit bereitete, hegte sie allmählich den unschönen Verdacht, dass er tatsächlich seine Wirkung tat. Sie war schon immer eine gute Raterin gewesen, aber ihr Glück von heute Abend hatte sie, gelinde gesagt, ziemlich verblüfft. Morgen würde sie nur so tun, als trinke sie das Zeug.
Sie fragte sich, ob sie Edison gegenüber ihre Sorge über die Wirkung des Tees zum Ausdruck bringen sollte, doch nach einem Augenblick des Überlegens entschied sie sich, es nicht zu tun. Es war ja in Ordnung, wenn sie seinen Verstand in Frage stellte, dachte sie, aber auf keinen Fall sollte er in Bezug auf sie dasselbe tun.
Sie betrat ihr Zimmer, verschloss hinter sich die Tür und machte sich immer noch nervös zum Schlafengehen zurecht. In ihrem Nachthemd und mit einer kleinen weißen Haube auf dem Kopf sah sie in Richtung ihres Bettes.
Sicher fände sie unmöglich Schlaf.
Plötzlich wurde das Bedürfnis, noch ein wenig frische Luft zu schnappen, geradezu überwältigend. Vielleicht vertriebe ein kurzer Spaziergang die restliche von Mirandas Tee herrührende Übelkeit. Ein paar Minuten auf der alten Burgmauer wären sicher alles, was sie brauchte, um wieder zu sich zu kommen.
Sie nahm ihren verblichenen Chintz-Morgenmantel vom Haken an der Tür, schlüpfte eilig hinein, band den schmalen Gürtel zu, schob die Füße in die Pantoffeln und steckte den Zimmerschlüssel in die Rocktasche.
Sie kehrte in den Flur zurück, schloss die Tür gewohnheitsmäßig ab und ging den Flur hinab in Richtung der schweren Eichentür, über die man auf die alte Brustwehr kam. Als sie sie erreicht hatte, musste sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen stemmen, damit sie sich überhaupt ein Stück weit öffnete.
Draußen angekommen, trat sie an den Rand der alten Mauer und blickte auf die in Mondlicht getauchten, ausgedehnten Gärten, hinter denen sich der dichte, dunkle Wald erhob.
Sie atmete tief ein und machte sich auf den Weg ans andere Ende des Balkons. Musik und Stimmen schwebten aus dem Ballsaal durch die Dunkelheit zu ihr herauf, nahmen jedoch mit jedem ihrer Schritte ab.
Am Ende der südlichen Mauer bog sie in Richtung Osten ab. Die kühle, klare Nachtluft milderte die durch den Tee hervorgerufene Übelkeit, nicht jedoch die düstere Vorahnung, von der sie mit einem Mal befallen worden war.
Verdammte Gefühle, dachte sie. Sie konnte unmöglich die ganze Nacht hier draußen bleiben, nur weil ihr ein wenig unbehaglich war.
Sie machte entschlossen kehrt, und als sie die schwere Eichentür erreicht hatte, zerrte sie mit beiden Händen an dem alten Eisenriegel, bis er sich schließlich öffnen ließ.
Sie trat in die Dunkelheit des Korridors, und sofort verstärkte sich ihre dunkle Vorahnung. Gerade, als sie sich trotzdem zwingen wollte, wieder in Richtung ihres Schlafzimmers zu gehen, drang das Echo schwerer Schritte an ihr Ohr.
Jemand kam die Wendeltreppe am anderen Ende des Gangs herauf!
Furcht wallte in ihr auf. Es gab keinen Grund, weshalb heute Abend einer der Bediensteten hier heraufkommen sollte. Es gab keinen
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