Verstohlene Kuesse
Grund, weshalb heute Abend überhaupt jemand außer ihr hier heraufkommen sollte, dachte sie.
Sie kämpfte nicht länger gegen ihre Panik an. Sie wusste einfach mit vollkommener Sicherheit, dass sie unmöglich wieder in ihr Zimmer zurück konnte. Wer auch immer die Treppe heraufkam, war sicher auf dem Weg dorthin.
Verzweifelt dachte sie über ihre Möglichkeiten nach, ehe sie in Richtung der nächstgelegenen Zimmertür hastete, den Knauf herumdrehte, lautlos in die leere, nicht benutzte Kammer glitt und die Tür hinter sich schloss.
Dann presste sie keuchend ihr Ohr gegen das dicke Holz und lauschte angestrengt.
Die Schritte brachen ab. Sie hörte das Klappern eiserner Schlüssel an einem schweren Ring und das Knirschen von Metall, als ein Schlüssel in das Schloss ihrer Schlafzimmertür geschoben wurde.
Sie kniff die Augen zu und hielt ängstlich den Atem an.
Ein leises Fluchen wurde hörbar, als der Schlüssel wieder herausgezogen und ein zweiter hineingeschoben wurde. Jemand hatte offenbar den Schlüsselring der Hausdame stibitzt. Wer auch immer dieser Jemand war, er hatte anscheinend die Absicht, unbedingt in ihre Kammer hineinzukommen.
Ein weiterer Schlüssel wurde in das Schloss geschoben und wieder äußerte jemand einen unterdrückten Fluch. Es war die Stimme eines Mannes, und sie verriet eine gewisse Ungeduld.
Dann hörte sie schaudernd, wie sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Der Eindringling war in ihrer Kammer! Wenn sie nicht vor ein paar Minuten auf den Balkon gegangen wäre, läge sie jetzt hilflos schlafend in ihrem Bett.
»Was ist denn das?«, dröhnte Chilton Cranes zornige Stimme durch die Tür und hallte laut im leeren Korridor. »Versteckst du dich etwa unter dem Bett? Hältst dich wohl für besonders schlau, du kleines Flittchen, was ?«
Glühend heißer Zorn dämpfte die Furcht, die Emma befallen hatte. Der Bastard! Offensichtlich hatte sie ihn am Vortag nicht heftig genug erwischt. Wirklich bedauerlich, dass Edison sie davon abgehalten hatte, ihn die Treppe herunterzuwerfen, dachte sie.
»Du steckst also nicht unter dem Bett? Na, dann bist du ganz bestimmt im Kleiderschrank. Aber auch das wird dir nichts nützen, meine kleine Miss Greyson. Ich weiß, dass du irgendwo in diesem Zimmer bist -« Plötzlich brach er ab. »Wer ist da ?«
Emma wurde eisig kalt. Draußen im Flur vor ihrem Zimmer war noch jemand. Sie hatte sich derart auf Crane konzentriert, dass sie die erneuten Schritte nicht gehört hatte. Ebenso wenig wie anscheinend Crane.
»Ich habe gefragt, wer da ist?«, tobte Chilton los. »Was soll das, he?«
Niemand antwortete ihm, aber als er erneut die Stimme erhob, drückte sein Tonfall nackte Panik aus.
»Nein, warten Sie. Um Gottes willen, stecken Sie die Pistole wieder ein. Das können Sie nicht tun. Was haben Sie -«
Die gedämpfte Explosion schnitt Cranes Proteste ab, und eine Sekunde später kündete ein dumpfer Aufprall davon, dass ein Körper zu Boden gefallen war.
In der dunklen, leeren Kammer kniff Emma die Augen zusammen und hielt entsetzt den Atem an.
Nach einer Ewigkeit hörte sie, wie sich die Tür zu ihrem Zimmer schloss. Sie hörte keine Schritte, aber nach einer endlos langen Zeit sagte sie sich, dass der zweite Eindringling sicher wieder gegangen war. Trotzdem wartete sie noch ein paar Minuten, ehe sie es wagte, ihr Versteck zu verlassen und nachzusehen.
Niemand schrie. Niemand kam die Treppe heraufgerannt. Es überraschte sie nicht, dass der Pistolenschuss ungehört verklungen war. Die dicken Steinmauern hatten das Geräusch zum größten Teil verschluckt, und bestimmt hatte die Musik im Ballsaal ein Übrigens getan.
Vor der Tür zu ihrem Zimmer blieb sie stehen. Allerdings konnte sie nicht ewig hier im Flur bleiben, sagte sie sich. Sie musste irgendetwas tun.
Sie atmete tief ein, öffnete die nicht verschlossene Tür und schwang sie langsam auf.
Es roch nach Tod.
Vorsichtig sah sie sich in der dunklen Kammer um. Chilton Crane lag ausgestreckt vor ihrem Bett, und von seinem gerüschten weißen Hemd hob sich ein im Silberlicht des Mondes hässlich schwarzer Blutfleck ab.
Dieses Mal hatte es den Bastard endgültig erwischt.
8. Kapitel
Edison hob die flackernde Kerze so, dass ihr Licht auf die Ansammlung kleiner, undurchsichtiger Flaschen auf dem Boden von einer von Mirandas Truhen fiel.
Er nahm eine von ihnen in die Hand und öffnete sie entschlossen. Ein vage vertrauter, scharfer und gleichzeitig süßlicher Duft schlug ihm entgegen.
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