Verstoßen: Thriller (German Edition)
Bildhauerei. Und seine Gäste aus dem großartigen Ostblock, mit ihren großartigen politischen Ideen. Immer blieb alles an mir hängen. Er arbeitete oft nachts und legte sich tagsüber schlafen. Wenn Sabine weinte, musste ich sie trösten. Mit deiner Geburt hat sich auch nichts geändert. Immer drehte sich alles nur um ihn: Geran, Geran und nochmals Geran. Während er sich persönlich entwickelte, saß ich mit den schmutzigen Windeln da.«
»Du hättest doch deine Fotografie nicht aufzugeben brauchen. «
Jeanny zog eine Augenbraue hoch. »Eine arbeitende Frau in den sechziger und siebziger Jahren? Wenn sie heirateten oder schwanger wurden, wurden die meisten Frauen damals entlassen. Kindertagesstätten gab es nicht, schon gar nicht in der Provinz. Und dein Vater machte keinen Finger krumm.« Jeanny entfuhr ein tiefer Seufzer. »Er ließ mir keinerlei Freiheit. Er wollte eine Frau mit freiem Geist, und er verbannte mich in die Küche. Ganz banal. Bürgerlich. Es hat mich Jahre gekostet, dahinterzukommen, dass es nicht Liebe war, was dein Vater für mich empfand, sondern der Drang zu besitzen. Zu kontrollieren. Ich war sein Vogel im Käfig, den er anschauen konnte, wenn er Lust dazu hatte.« Jeanny schaute durchs Küchenfenster nach draußen. »Dein Vater war ein Theoretiker. Er las viel und diskutierte gern, er redete alle unter den Tisch. Aber wenn es um praktische Dinge ging, war er hilflos wie ein Kind. Das wirkliche Leben hatte er einfach nicht im Griff. Ich habe Jahre gebraucht, das zu begreifen. Wir lebten zwar noch in ein und demselben Haus, hatten aber nicht mehr viel gemeinsam. Ich glaube, am Ende habe ich ihn nicht mal mehr geliebt. Ich liebte
den Mann, der er hätte sein können und der er in meiner naiven Wahrnehmung einmal gewesen war.«
»Bist du wegen Papa weggegangen?« Susan zögerte kurz. »Hat er dich geschlagen?«
Jeanny schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten ein Nein. »Er war einfach, wie er war, und ich habe es geschehen lassen.« Sie seufzte und erhob sich. »Ich setze mal Tee auf.«
Susan stützte das Kinn auf die Faust und blickte nach draußen. Sie versuchte sich zu vergegenwärtigen, wie es gewesen war, als ihre Mutter noch zu Hause gelebt hatte. Das war schwierig, weil sie immer auf die Zeit nach ihrem Verschwinden fixiert gewesen war. Abgesehen davon, dass ihr Vater die Elternabende vermurkste und dass ihre Eltern ihr meistens verboten, Schulfreundinnen einzuladen, hatte sie eine stabile und liebevolle Jugend gehabt.
Ihre Mutter war fürsorglich gewesen. Ihr Vater war zwar tatsächlich oft abwesend, vor allem gedanklich, aber das hatte sie nie als Problem empfunden. Es war einfach so. Zum Problem wurde es erst, als ihre Mutter nicht mehr da war und Geran nicht einmal den Anschein eines Familienlebens aufrechterhalten konnte. Trotzdem, so sehr sie auch in ihren Erinnerungen wühlte, nie war ihr aufgefallen, dass in der Ehe ihrer Eltern etwas nicht gestimmt hätte. Natürlich hatten sie manchmal Streit – es knallte sogar regelmäßig –, aber doch nie in einem Maße, dass die Familie darunter litt.
Nun stellte sich jedoch heraus, dass sich im Hause Staal Dinge abgespielt hatten, die sie nicht mal geahnt hatte. Die Typen, die sie ab und zu auf der Couch im Wintergarten angetroffen und mit denen ihr Vater spätabends stundenlang in seinem Atelier Gespräche geführt hatte, waren also keineswegs einfach Freunde gewesen. Hatte Walter das auch gewusst? Und dieser andere Kerl, dieser Roger? Waren die auch kommunistisch eingestellt?
»Here you are.« Jeanny stellte zwei Gläser Tee auf den Tisch. Schenkte Milch ein und setzte sich. »Ich werde dir jetzt etwas erzählen, und ich hoffe, dass es dich nicht zu sehr schockiert.«
Susan blickte ihre Mutter forschend an. Sie war ganz Ohr.
»Im Sommer ’83 war ich einfach ausgelaugt. Ich hatte es satt, mit allem allein fertig werden zu müssen, und die Ehe mit Geran hing mir zum Hals heraus. Ich glaube, wir waren an einem Tiefpunkt angelangt. Für mich selbst hatte ich schon einen Plan entworfen. Denn dass ich bei ihm nicht bleiben würde, war mir klar. Nur hatte ich kein Geld. Also wollte ich wieder anfangen zu fotografieren, ein paar Auftraggeber finden und mir langsam eine Rücklage bilden, von der Geran nichts zu wissen brauchte. Ich hatte mir alles genau überlegt. Sabine war damals schon mit Michael zusammen, es war eine Frage von Monaten, bis sie ausgeflogen wäre. Du warst sehr selbstständig, schon als kleines Kind. Wolltest dir
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