Verstoßen: Thriller (German Edition)
wünschte, sie könnte ruhiger bleiben. Einfach ganz vernünftig reden. Aber es gelang ihr nicht. Sie zitterte am ganzen Leib, war aufgewühlt, ja rasend vor Wut. »Erzähl es mir doch einfach! Ich bin schließlich deine Tochter! Was zum Teufel war so wichtig, dass du dich aus dem Staub machen und mir meine ganze Jugend versauen musstest? Weißt du, was aus Papa geworden ist, nachdem du weg warst? Ein Wrack. Er gab so gut wie kein Wort mehr von sich. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn man Abend für Abend alleine vor seinem Teller sitzt? Tagein, tagaus? Woche für Woche, Jahr für Jahr? Es hat keine zwölf Monate gedauert, bis auch Sabine wegzog, und ich musste zusehen, wie ich alleine zurechtkam in diesem verdammten eiskalten Haus. Weißt du, was das für ein Gefühl ist, wenn alle anderen Kinder zur Zeugnisausgabe in Begleitung ihrer Eltern kommen und du dich alleine auf dein Fahrrad schwingen und nach Hause radeln musst, wo dein Vater halb betrunken im Bett liegt? Papa lebte nur noch in seiner eigenen Welt. Wie ein Gespenst geisterte der durchs Haus, man kam nicht mehr an ihn heran. Es kam auch niemand mehr zu Besuch. Hinter dir fiel die Tür ins Schloss, und unser Leben war aus und vorbei!«
Jeanny fing an zu weinen.
Susan holte tief Luft, erst einmal, dann noch einmal. »Findest du nicht, dass ich zumindest mal erfahren dürfte, warum du uns hast sitzen lassen, Sabine und mich?« Ihre Stimme zitterte. »Machst du dir einen Begriff davon, wie sehr ich mich im Stich gelassen fühlte?«
Jeanny stand auf, ging zur Spüle, riss ein paar Blatt Papier von einer Küchenrolle ab und putzte sich die Nase. Mit dem Rücken zu Susan blieb sie stehen. »Susan … glaub mir, ich habe damals keine Alternative gesehen. Es gab einfach keine. Als ich fortging, war alles unsicher. Ich wollte euch nicht in meine Probleme hineinziehen. Sabine stand schon mit einem Bein in ihrem neuen Leben, und du hattest gerade die Grundschule hinter dir. Indem ich alleine gegangen bin, konnte bei euch das meiste bleiben, wie es war. Du konntest weiter zur Schule gehen, deine Ausbildung weitermachen.«
Ach ja, dachte Susan, natürlich. Die Schule. Meine Ausbildung. Die Speerspitzen ihrer Erziehung, immer leise eingeflüstert, wenn ihr Vater es nicht hörte, weil er sich in der selbstgewählten Armut seines Künstlerdaseins eingeigelt hatte. Ihre Mutter hatte darüber schon immer anders gedacht, hatte schon immer andere Dinge wichtig gefunden als ihr Vater. Geputzte Schuhe und eine gute Ausbildung zum Beispiel. Damit man später einen Job bekam, der einen in die Lage versetzte, seine Heizkostenrechnung zu bezahlen.
Jeanny stand noch immer mit dem Rücken zu Susan.
»Wusste Papa, dass du gehst?«
Jeanny schnäuzte sich die Nase und wischte sie mit dem Küchenpapier ab. »Ja.«
»Die Polizei ist da gewesen. Sie haben die ganze Nachbarschaft ausgefragt. Es stand in der Zeitung. Papa hat nie etwas verraten. Jahrelang hat mich das verfolgt. In der Schule hieß es immer, er hätte dich ermordet. Ein Roter, so einem konnte
man sowieso nicht trauen … als ob Kommunisten grundsätzlich Verbrecher wären. Ich wusste damals nicht mal, was das ist, ein Roter.«
Langsam drehte Jeanny sich um. Ihr Gesicht war vom Heulen ganz rot, ihre Lider geschwollen.
»Ich hab dich vermisst, Mama«, sagte Susan. »Ich brauchte dich, und du warst nicht da.«
Langsam kehrte Jeanny zum Küchentisch zurück und nahm gegenüber von Susan Platz. Zog mit den Nägeln Kreise auf der Tischplatte aus Kiefernholz. »Du hast recht«, sagte sie leise. »Du hast ein Recht darauf, es zu erfahren.« Sie ergriff Susans Hände, drückte sie und strich nervös mit den Daumen über ihre Handrücken. »Weißt du noch, dass wir regelmäßig Künstler zu Besuch hatten, aus der DDR?«
Susan nickte. »Von diesem Austauschprojekt. Aber seit du weg warst, ist niemand mehr gekommen. Obwohl es doch eigentlich eher Papas Gäste waren.«
»Das Austauschprogramm war eine Tarnung. Das waren gar keine Künstler. Wir waren ein Safe House, Susan. Wir nahmen Leute bei uns auf, die im Auftrag der Stasi in den Westen kamen, um Informationen zu sammeln.«
Susan brauchte eine Weile, um das auf sich wirken zu lassen. Ihre Kindheit war ziemlich ungewöhnlich gewesen. Wie ungewöhnlich, war ihr allerdings erst später bewusst geworden, als sie sich mit Gleichaltrigen über diese längst vergangene Zeit austauschte. Sie hätte alles Mögliche als Erklärung dafür erwartet. Dies nicht.
»Künstler
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