Verteidigung
unter die Nase gehalten hatten, mit denen Rechtsanwalt Figg unablässig den Großraum Chicago überschwemmte, um neue Mandate zu finden. Rochelle musste zugeben, dass es ihm wieder einmal gelungen war, sie zu überraschen.
Die Honorarordnung der Kanzlei war dehnbar wie Gummi, und die Kosten für eine anwaltliche Vertretung konnten sich von einem Moment auf den anderen ändern, je nach Mandant und Situation. Ein gut angezogenes Paar, das mit einem neueren Auto vor der Kanzlei parkte, bekam für eine einvernehmliche Scheidung unter Umständen ein Angebot über tausend Dollar von einem der beiden Partner, während eine Stunde später ein einfacher Arbeiter und seine verhärmte Frau den anderen Partner auf die Hälfte davon herunterhandeln konnten. Zu Rochelles Aufgaben gehörte es, bei Streitigkeiten über die Höhe der Honorare zu vermitteln.
Bingokarten? Nichts leichter als das für dreihundertneunundneunzig Dollar? Oscar würde vor Wut platzen.
»Okay«, sagte sie ganz ruhig, als hätte Werbung auf Bingokarten eine lange Tradition in der Kanzlei. »Jetzt müsste ich noch die Eigentumsregelung sehen.«
Mrs. Flander händigte den Umschlag aus. Rochelle überflog die Vereinbarung und gab sie zurück. »Ich werde nachsehen, ob Mr. Finley in seinem Büro ist«, sagte sie. Die Bingokarte nahm sie mit.
Wie immer war die Tür zu Oscars Büro geschlossen. In der Kanzlei wurde strikt darauf geachtet, dass stets sämtliche Türen geschlossen waren, um die Anwälte zu schützen – voreinander, vor dem Straßenlärm und vor den Pennern, die sich hin und wieder hereinwagten. Von ihrem Schreibtisch in der Nähe der Eingangstür aus hatte Rochelle alle Türen im Auge – Oscars Büro, Wallys Büro, Küche, Bad, Kopierraum und die kleine Rumpelkammer, die sie als Archiv nutzten. Sie wusste, dass die Anwälte gern an den geschlossenen Türen lauschten, wenn sie einen potenziellen Mandanten ausquetschte. Wally hatte in seinem Büro eine Seitentür nach draußen, die er häufig benutzte, um vor einem aufgebrachten Mandanten zu flüchten, Oscar dagegen nicht – er musste also an seinem Schreibtisch sitzen. Und da Wally auf seiner Runde durch die Beerdigungsinstitute war, hatte sie keine andere Wahl.
Rochelle schloss die Tür hinter sich und legte die Bingokarte vor Mr. Finley auf den Schreibtisch. »Das werden Sie mir nicht glauben«, sagte sie.
»Was hat er denn jetzt wieder angestellt?«, fragte Oscar, während er einen Blick auf die Karte warf. »Dreihundertneunundneunzig Dollar?«
»Genau.«
»Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass fünfhundert Dollar das Minimum für eine einvernehmliche Scheidung sind?«
»Nein, wir hatten siebenhundertfünfzig Dollar vereinbart, dann sechshundert, dann tausend, dann fünfhundert. Nächste Woche werden wir sicher wieder etwas anderes vereinbaren.«
»Ich mache keine Scheidung für vierhundert Dollar. Ich bin seit dreißig Jahren Anwalt, und ich werde mich nicht für ein derart niedriges Honorar prostituieren. Ist das klar, Ms. Gibson?«
»Das haben Sie schon mal gesagt.«
»Figg soll das machen. Es ist sein Fall. Seine Bingokarte. Ich habe zu viel zu tun.«
»Aber Figg ist nicht da, und Sie haben eigentlich gar nicht so viel zu tun.«
»Wo ist er?«
»Er besucht die Toten, auf einer seiner Beerdigungsrunden.«
»Was hat er denn dieses Mal vor?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Heute Morgen waren es Taser-Waffen.«
Oscar legte die Bingokarte vor sich auf den Schreibtisch und starrte sie an. Er schüttelte den Kopf, brummelte etwas vor sich hin und fragte: »Was für ein verwirrter Geist denkt sich denn so etwas aus? Wer würde Werbung auf Bingokarten machen, die in einem Klub für Kriegsveteranen ausgegeben werden?«
»Figg«, erwiderte sie.
»Ich werde ihn erwürgen müssen.«
»Ich helfe Ihnen dabei.«
»Werfen Sie das Zeug hier auf seinen Schreibtisch. Machen Sie einen Termin. Die beiden können später wiederkommen. Es ist ein Skandal, dass die Leute denken, sie könnten einfach so reinspazieren und ohne Termin mit einem Anwalt sprechen, selbst wenn es nur Figg ist. Lassen Sie mir wenigstens ein bisschen Würde.«
»Okay, sollen Sie haben. Aber die beiden haben ein bisschen was auf der hohen Kante und fast keine Schulden. Sie sind in den Sechzigern, Kinder schon aus dem Haus. Ich würde vorschlagen, Sie teilen die beiden auf, nehmen die Frau und schlagen noch ein zusätzliches Honorar heraus.«
Um drei Uhr nachmittags war Abner’s wieder ein Ort der Ruhe.
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