Vertrau deinem Herzen
sie den kleinen Teufel in sich nicht ganz unterdrücken. „Und wer hat Ihnen die Verantwortung übertragen?“
„Niemand“, antwortete die Ärztin, „ich habe sie mir einfach genommen. Aber ich kann mich nicht um alles kümmern. Deine Gesundheit wird in deinen Händen liegen; ich kann dich nicht zur Zusammenarbeit zwingen. Aber du bist es dir schuldig, eine vollständige und detaillierte Diagnose zu bekommen und zu erfahren, womit du es zu tun hast.“
„Gibt es nicht eine Spritze oder so, die mich wieder gesund macht?“
„Insulinresistenz funktioniert leider nicht so. Das Ziel ist es, sie so lange wie möglich ohne Gabe von Medikamenten unter Kontrolle zu halten.“
„Entschuldigen Sie bitte!“, fauchte Callie. „Das Ziel ist es, sie wieder loszuwerden.“
„Wenn sich die Diagnose einer Diabetes bestätigt, gibt es keine Heilung. Es handelt sich um eine chronische Krankheit, die lebenslange Aufmerksamkeit erfordert. Aber mit Gewichtsverlust, Sport und der richtigen Ernährung kann man sie besiegen.“
„Sie können sie nicht heilen, aber ich kann dafür sorgen, dass sie verschwindet?“
„Wenn du wirklich eine Insulinresistenz hast, besteht für dich ein erhöhtes Risiko, Diabetes zu entwickeln. Diese Entwicklung kannst du jedoch verhindern, wenn du dein Leben jetzt sofort änderst.“ Die Ärztin schaute auf ihr Klemmbrett. „Ich erklär es dir.“ Sie fing an, die Krankheit in einfachen Worten zu erläutern.
Callie blendete den Vortrag aus. Chronische Krankheit.
Diese Worte stachen ihr wie ein eiskaltes Messer ins Herz. Sie waren beängstigend. Verstörend. Betäubend. Lebenslange Aufmerksamkeit. Sie weigerte sich, in Tränen auszubrechen. Weinen hatte noch nie geholfen, und ganz sicher würde sich das jetzt nicht ändern. „Und wenn ich mich nicht untersuchen lassen und den Unterricht besuche und all das?“, unterbrach sie die Ärztin.
„Dann gehst du ein großes Risiko ein. Du hast die Wahl.“
Ich will keine Wahl haben. Sag mir, was ich tun soll. Ich bin doch noch ein Kind.
„Deine Freunde warten auf dem Flur“, sagte die Ärztin. „Ich weiß, dass sie es kaum erwarten können, dich zu sehen.“
Nein. Sie versuchte, das Wort auszusprechen, aber ihr Kopf nickte gegen ihren Willen.
Ein paar Minuten später standen Kate und JD an ihrem Bett. Callie sah die beiden an, und ihr Herz erkannte die Gefühle, die sie ausstrahlten. So etwas hatte sie noch nie zuvor gespürt, und es gab keinen Grund, warum sie in der Lage sein sollte, sie zu erkennen, aber es war so. Kate und JD waren nicht aus Pflichtgefühl hier oder weil der Staat ihnen einen monatlichen Scheck schickte. Sie waren aus Liebe hier, aus Mitgefühl, und diese Erkenntnis brach über Callie hinein wie die aufgehende Sonne.
Wieder einmal befahl das Mädchen sich, nicht zu weinen. Callie wiederholte den Satz wie ein Mantra in ihrem Kopf: Nicht weinen. Nicht weinen. Nicht weinen. Aber es hatte keinen Zweck. Gestern hatte sie sich auch nicht zurückhalten können, als sie sah, was diese Menschen für sie auf die Beine gestellt hatten. Eine Geburtstagsfeier. Eine echte Party mit Spielen und extra für sie ausgesuchten Geschenken. Eine Feier, nur weil sie geboren worden war. Kein Wunder, dass sie in Tränen ausgebrochen war.
Man sollte meinen, dass ein Tag Geheule genug wäre, aber jetzt passierte es erneut. Beim Anblick der Sorge und Liebe in ihren Gesichtern, verlor sie noch schlimmer die Kontrolle als zuvor.
Kate schlang ihre Arme um sie und strich sanft über Callies Haar. Diese sanfte, zärtliche Berührung machte alles noch schlimmer. Carrie weinte, weil sie Angst hatte und ihr Leben ein einziges Chaos war und sie nicht wusste, wie sie sich selber retten sollte. Sie weinte, weil sie schreckliche Fehler begangen hatte und es keine Möglichkeit gab, sie wiedergutzumachen. Sie schluchzte, bis sie sich wie ein ausgewrungenes Geschirrtuch fühlte. Sie brachte kaum die Kraft auf, Kate anzuschauen. Aber als sie es tat, stellte sie erschrocken fest, dass Kate ebenfalls weinte.
„Es tut mir so leid“, schluchzte Callie und dachte: Es tut weh. Liebe tut weh. Kann das sein?
„Es gibt nichts, was dir leidtun müsste.“
JD reichte ihnen eine Box Taschentücher, und beide nahmen sich welche und trockneten sich das Gesicht ab. JD selber schien erstaunlich ruhig zu sein. Vielleicht hatte er in seinem anderen Leben andauernd solche Sachen gesehen -Menschen, die zusammenbrachen, nach jemandem suchten, an den sie sich anlehnen
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