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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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kleine Gefühle?«
    Ich sah sie an, spürte, dass sie nicht loslassen konnte, bevor ich es ihr nicht bestätigt hatte. Waren da Gefühle? Ich sah in ihr liebes, gütiges Gesicht, in ihre kleinen müden Augen, die sie kaum noch offen halten konnte. Plötzlich wusste ich, wie ich sie erlösen konnte, ohne zu lügen.
    Ich drückte ihre Hände an meine Brust.
    »Ja. Da sind Gefühle, Mutter.«
    »Dann kann ich dich jetzt also allein lassen?«
    »Ja, Mutter. Mach dir keine Sorgen um mich.«
    »Mach’s gut, mein lieber Schatz …«
    Mutter schloss die Augen, und ihre Züge entspannen sich. Ich beugte mich über sie und versuchte, ihren Atem zu spüren. Er wurde langsam schwächer, und bald darauf schlief sie in meinen Armen ein. Als ich wieder aufsah, stand Rainer im Raum. Er griff nach meiner Hand, und ich setzte mich drauf.
    Bei der Trauerfeier saßen meine drei Freundinnen neben mir in der ersten Bank. Rainer hatte sich rührend um alles gekümmert. Um die Beerdigung, die Trauerkarten, die Musik, die Einladungen und die ganze Organisation. Alle waren sie da: Billi, im schwarzen Dirndl, mit schwarzem Mohairchen auf dem Schoß. Sonja, im schwarzen knappen Kostüm. Und Vivian im schwarzen Hängerchen. Letztere war sehr blass und hatte ihre dicken semmelblonden Haare zu einem Knoten hochgesteckt. Der Platz links neben mir war noch frei. Natürlich würde Rainer sich später dazusetzen. Mutters schmaler, schlichter Sarg stand vorn, mit weißen Rosen geschmückt. Unzählige Kränze und Blumen säumten ihn. Sie war in unserem Ort beliebt und anerkannt gewesen. Der Pastor predigte recht lange, sprach von geduldig ertragenem Leid und einem Leben in Demut und Bescheidenheit. Ich hielt den Blick starr nach vorn gerichtet. Nun war ich allein. So viele Erinnerungen gingen mir durch den Kopf. Was hatten wir beide nicht alles gemeinsam durchgestanden! Ich spürte Liebe und Dankbarkeit. Aber auch Erleichterung, dass Mutter so schnell hatte gehen dürfen. Und dass wir uns noch so liebevoll hatten verabschieden können.
    Und jetzt? Was wurde jetzt aus mir – und Rainer? Wir waren nicht länger aneinandergekettet. Der Platz an meiner Seite war frei … Als ich hörte, wie schwere Schritte den Gang hinunterkamen, fröstelte mich in meinem dünnen schwarzen Kostüm. Jeden Moment würde Rainer sich schnaufend neben mich fallen lassen. Ich wollte instinktiv meine Handtasche mit der Großpackung Taschentücher an mich nehmen, als jemand leise neben mich glitt. Nicht so plump und schwerfällig wie erwartet. Er keuchte nicht. Er roch auch anders als Rainer. Es war nicht Rainer. Mein Blick huschte nach links. Ich zuckte überrascht zusammen.
    Es war Roman.
    Er war aus dem Nichts aufgetaucht und saß plötzlich neben mir! Mein bildhübscher Sohn hatte einen tadellosen schwarzen Anzug an, geputzte Lackschuhe, ein weißes Hemd und einen schmalen schwarzen Schlips. Sein dichtes schwarzes Haar glänzte frisch gewaschen und fiel ihm in weichen Wellen auf den Hemdkragen.
    »Hallo, Carin.« Sein Lächeln war angespannt, aber freundlich.
    Plötzlich überkam mich tiefe Dankbarkeit und Freude. Er war gekommen, um Mutter die letzte Ehre zu erweisen! Er, ihr Enkel! Obwohl sie ihn nicht mehr hatte sehen wollen, war er gekommen, woher auch immer. Ich sah mit einem Anflug von Zärtlichkeit zu ihm hinüber. Auf einmal hatte ich das Bedürfnis, die Handtasche, die uns trennte, beiseitezuschieben und seine Hand zu nehmen. Zum Glück zuckte er nicht zurück! Seine Hand war kühl, glatt und fremd. Völlig ungewohnt. Wie oft hatte ich davon geträumt, seine Hand zu halten! So saßen wir, Mutter und Sohn, unter den Klängen des Kirchenchors, der passenderweise »So nimm denn meine Hände« sang, in der Kirchenbank. Es war ein tröstliches Gefühl. Wir waren doch so etwas wie eine kleine Familie.
    Er beugte sich vor und schielte unauffällig zu Vivian hinüber, doch diese wandte errötend den Blick ab.
    Das war verständlich. Er war schließlich seit Rom völlig vom Erdboden verschwunden gewesen und hatte sich bei der werdenden Mutter mit keiner Silbe gemeldet!
    Ich spähte ebenfalls vorsichtig zu Vivian hinüber. Was mochte in ihr vorgehen? Natürlich hatten wir ihr inzwischen erzählt, dass Roman ein Spieler war und in großen finanziellen Schwierigkeiten steckte. Sie war entsetzlich enttäuscht gewesen. Sie würde nicht auf ihn bauen können. Im Gegenteil, sie musste sich vor ihm hüten! Von der DVD hatten sie noch nichts gesehen, wahrscheinlich hatte er das ganze

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