Verwechseljahre: Roman (German Edition)
…«
»Hast du seine Gedichte da?«
»Nein … Ich habe sie Sonja …« Ich schluckte trocken. »Was meinst du damit?«
»Herr, der Sommer war sehr groß.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen! »Ach so! DER Rainer Maria. Rilke!«
»Ja, kennst du noch einen anderen Dichter, der so heißt?«
»Ähm, nein, natürlich nicht!« Schluck.
»Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren «, zitierte Roman. »Und jag die letzte Süße in den schweren Wein!«
Oh! Er kannte eines meiner Lieblingsgedichte! Es bezog sich irgendwie auch auf den Herbst des Lebens. Und mein Sommer war irgendwie zu kühl und regnerisch ausgefallen, als dass ich nicht noch ein paar Tage in südlichen Gefilden hätte vertragen können …
»Befiehl den letzten Früchten voll zu sein …«, zitierte Roman, als könnte er Gedanken lesen. »Gib ihnen noch zwei südlichere Tage.«
»Es darf auch eine ganze Woche sein.« Ich lehnte mich entspannt zurück. Jetzt hatte er mir aber einen Schrecken eingejagt!
Mit halb geschlossenen Augen zitierte er weiter: »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.«
»Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.«
Ich schluckte. Eine Gänsehaut überzog mich. Rainer oder nicht Rainer? Das war hier die Frage.
Roman fuhr fort:
»Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben …«
»… und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben«, nahm ich den Faden auf. Ich rieb mir fröstelnd die Arme. »Das ist schaurig schön.«
»Ja. Interessant, dass du es kennst.«
»Hallo? Ich bin Bibliothekarin!«
»Und ich dein Sohn!«
Wir lächelten uns an. Er war gebildet, eloquent, belesen. Wir würden uns so viel zu sagen haben! Wir hatten gleiche Interessen, gleiche Begabungen! Ich sah uns schon die Köpfe zusammenstecken, lachen, uns gegenseitig mit Wasser nass spritzen, barfuß um die Wette rennen, endlose Strandspaziergänge machen und uns unser ganzes Leben erzählen …Ein ganzer Pilcher-Film lief vor meinem inneren Auge ab. Ich war Thekla Carola Wied und er Erol Sander. Ganz großes Kino. Roman würde seine Fehler einsehen. Und am Ende würden wir uns in den Armen liegen.
Wir surften zusammen im Internet. Seite an Seite suchten wir nach Last-Minute-Angeboten. Roman entdeckte einen Robinson-Club an der Algarve. »Dort gibt es fantastische Golfplätze!«
Er klickte auf Fotos von dieser Anlage, und ich fand sie ausgesprochen ansprechend. Auch wenn ich nichts von Golf verstand, sah ich doch, dass diese Plätze in eine wunderschöne Landschaft eingebettet waren.
»Ist natürlich nicht ganz billig …« Roman kratzte sich am Kopf und starrte auf den Bildschirm.
»Egal!«, hörte ich mich sagen. »Hauptsache, wir haben Zeit füreinander.«
Er hatte nichts von Spielcasinos gesagt! Noch nicht mal von Automaten! Die schien es dort auch gar nicht zu geben. Dafür schöne Natur, weite Landschaften und den Atlantik. Endlich, endlich würden wir unser Leben aufarbeiten. Alles voreinander ausbreiten, unsere Ängste, Wünsche und Sehn-, ähm – Süchte. Wir würden offen über alles sprechen. Ich würde ihm endlich die Mutter sein, die ich immer für ihn hatte sein wollen: Wir schaffen das gemeinsam, wir halten zusammen. Ich bin für dich da. Wir kriegen das in den Griff. Du kannst mir alles sagen, ich stehe hinter dir. Alles Worte, die ich mein Leben lang hatte sagen wollen! Zu meinem Kind! Kein Preis der Welt war mir dafür zu hoch! Meine Gefühle spielten verrückt. Einerseits war ich glücklich, andererseits bange. Einerseits fühlte ich mich mutig, andererseits hatte ich ein schlechtes Gewissen Rainer gegenüber. Einerseits trauerte ich um Mutter, andererseits sehnte ich mich nach …
Bestimmt bildete ich mir nur ein, dass Viktor … Dass er genau wie ich … Aber wo war er nur abgeblieben? Warum hatte er sich nicht mehr gemeldet? Wusste er das mit Mutter? Doch ich hatte ihn im Regen stehen lassen. So wie ich Roman beim ersten Telefonat abgewürgt hatte. Nichts brachte ich so richtig zu Ende.
»Alles klar, Carin?«
»Ja, natürlich. Alles klar.«
Ich erhob mich, um Mutters Bett frisch zu beziehen und ein wenig Ordnung in ihrem Zimmer zu machen. Ihr Gebiss im Glas, ihre Rheumasalbe, ihre Ohropax – all das musste hier nicht länger rumstehen.
Inzwischen buchte Roman online den Urlaub. »Morgen müssen wir ganz früh aufbrechen, Carin!«, rief er.
»Oh, das ist gut.«
Nichts wie weg!, dachte ich. Erst mal alles hinter mir lassen. Auch Rainer.
Roman war hundemüde und ging bald ins Bett. Ich
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