Verzaubertes Verlangen
Schließlich war Venetia nur die Fotografin.«
»Es ist ein simpler Plan«, gestand Gabriel. »Aber die sind meiner Erfahrung nach gemeinhin die besten.«
Venetia wandte sich wieder ihrem Frühstück zu. Er bemerkte, dass sie nicht sonderlich erleichtert durch Beatrices Schlussfolgerung wirkte. Doch er wagte kaum zu hoffen, dass sie um seine Sicherheit fürchtete.
Es war nicht leicht gewesen, sie gestern Nacht aus dem
Arbeitszimmer gehen zu lassen. Jede Faser in ihm hatte sich danach gesehnt, sie in seine Arme zu schließen und nie wieder loszulassen. Erkannte sie denn nicht, dass sie zusammengehörten? Hatte sie den Schwur vergessen, den sie in jener letzten Nacht in Arcane House abgelegt hatte?
Ich gehöre dir.
19
Harold Burtons kleines, schäbiges Fotoatelier war dunkel und verlassen. Es war beinahe, als ahnte das Geschäft, dass sein Besitzer nicht zurückkehren würde, und hätte daraufhin seine Pforten geschlossen.
Der dichte Nebel verstärkte die düstere Stimmung noch, fand Venetia. Sie stand in einem Eingang auf der anderen Seite der schmalen Gasse, direkt gegenüber von Burtons Fotoatelier. Es war früher Nachmittag, doch die weißen Schwaden waren so dick, dass sie den kleinen Laden kaum sehen konnte. Sie blickte zu den Fenstern der Räume über dem Atelier hinauf. Auch dort war alles dunkel. Die Räume hatten Burton bestimmt als Wohnung gedient.
Sie hatte sich spontan entschlossen, hierherzukommen, und hatte Amelia und Maud, dem Ladenmädchen, das sich um das Atelier kümmerte, die Aufgabe überlassen, das Modell für das nächste Porträt in der außerordentlich erfolgreichen Reihe Shakespeare’sche Helden auszusuchen.
Die Möglichkeit, dass Burton noch andere Fotos von ihr gemacht hatte, die er vor seinem Tod nur nicht mehr bei ihr hatte abliefern können, hatte ihr seit dem Aufwachen keine
Ruhe mehr gelassen. Wer konnte schon sagen, welche Boshaftigkeiten Burton vor seinem vorzeitigen Ableben mit seinen Retuschierwerkzeugen angestellt hatte. Sie konnte es sich nicht leisten, dass ein kompromittierendes Foto einem ihrer Konkurrenten in die Hände fiel oder, schlimmer noch, bei einem Kunden landete.
Es herrschte kaum Betrieb in der Gasse. Die Geschäfte zu beiden Seiten von Burtons Fotoatelier waren geöffnet, doch es gingen keine Kunden ein und aus. Die wenigen beherzten Seelen, die dem dichten Nebel trotzten, wandelten umher wie verirrte Geister und waren so angestrengt darauf bedacht, nicht gegen Wände zu rempeln oder über Pflastersteine zu stolpern, dass sie Venetia gar nicht bemerkten. Ihr ging auf, dass sie verborgen in diesem Eingang, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und mit einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht, beinahe unsichtbar war.
Sie wartete, bis eine leere Hansom-Kutsche langsam vorbeigerumpelt war, dann überquerte sie die Gasse zum Atelier.
Es überraschte sie nicht festzustellen, dass die Eingangstür des Geschäfts fest verriegelt war. In allen Fenstern waren die Jalousien heruntergezogen. Burton hatte offensichtlich ordentlich Ladenschluss gemacht, bevor er sich am vorherigen Abend zur Ausstellung und der Begegnung mit seinem Mörder aufgemacht hatte.
Venetia ging zur nächsten Ecke, bog ein und ging einen schmalen Durchgang entlang zu einer engen Gasse, die ihrerseits zu den Hintereingängen der Läden führte. Der Nebel schien in dieser schmalen Gasse noch dichter, wenn das überhaupt möglich war.
Sie fand die Hintertür des Ateliers und stellte fest, dass auch diese abgeschlossen war. Sie zog eine Haarnadel aus ihrem aufgesteckten Zopf und machte sich an die Arbeit. Als Fotograf lernte man schnell den geschickten Umgang mit Werkzeugen und Gerätschaften, denn man war ständig gezwungen, zu improvisieren, dachte sie .
Die Tür ging auf. Venetia schaute sich ein letztes Mal um, um ganz sicherzugehen, dass sie auch niemand beim Betreten des Geschäfts beobachtete. Nichts regte sich in dem Nebelmeer, das in der Gasse wogte.
Lautlos schlüpfte sie in das Hinterzimmer des Ateliers und schloss die Tür. Dann nahm sie sich einen Moment, um sich in dem unordentlichen, schummrigen Raum umzuschauen.
Das Hinterzimmer war vollgestopft mit den üblichen Requisiten eines Fotoateliers. Kartons mit alten Negativen stapelten sich bis zur Decke. Ausgeblichene Hintergründe in verschiedenen Farben und mit verschiedensten Motiven waren hinten an die Wand geschoben. In einer Ecke stand ein alter, durchgesessener Porträtstuhl mit einem abgebrochenen Bein. Unter dem Stuhl
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