Viel Trubel um Sam
ich Sie verarzten kann?”
“Ja, klar.”
“Das könnte ein bisschen brennen.”
Verglichen mit der plötzlichen Hitze im Zimmer, fühlte sich die Jodtinktur geradezu kühl an. Es folgte die Wundsalbe, dann das Pflaster. Ihr schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis er sagte: “Na bitte. Das war’s.”
Hastig richtete sie sich wieder auf. “Danke.”
“Nein. Ich danke Ihnen.”
“Wofür?”
“Dafür, dass Sie Ihr Leben riskiert haben, um mich zu warnen.”
“Sind Sie gar nicht sauer darüber, dass ich gedacht habe, Sie würden wieder ein Auto klauen?” Sie blickte ihn unsicher an.
Als er lächelte, bildeten sich kleine Fältchen um seine Augen. “Ein verständlicher Irrtum. Was mich viel mehr beeindruckt, ist die Tatsache, dass Sie sich selbst in Gefahr gebracht haben, um mich zu warnen.”
Sie zuckte schuldbewusst mit den Schultern. Sie konnte ihm ja schlecht sagen, aus welchem Grund sie ihn beschattete.
“Ich will einfach nicht, dass Sie noch mehr Ärger bekommen”, antwortete sie. Und das stimmte ja auch. Das war nicht gelogen.
Er machte einen Schritt auf sie zu. “Ich bin kein Projekt, Edie.”
Projekt? Hatte er erraten, dass sie ihn zu Studienzwecken missbrauchte? Aber woher sollte er das wissen?
Sie lächelte nervös. “Das habe ich doch auch nie behauptet.”
“Aber ich kann es in Ihren Augen sehen. Sie sind genau wie meine Tante Polly und wie meine Exfreundin. Ein kurzer Blick auf mich reicht, und sie glauben, mich müsste mal jemand auf Vordermann bringen. Nun, ich bin aber nicht irgendein baufälliges Haus, Lady. Ich bin ein Mann.” Er kam noch etwas näher. Der Boden knarrte unter seinem Gewicht. “Mit allen Fehlern und Stärken.”
“Ich habe nie …”
“Psst.” Er legte einen Finger auf ihre Lippen. “Ich habe schon ziemlich viel gesehen. Eine Menge hässliche Dinge, von denen ich hoffe, dass Sie sie nie erleben werden.”
Edie schluckte.
“Mir gefällt es ja gerade, wie heiter und optimistisch Sie die Welt betrachten. Aber Edie, Sie sind viel zu behütet aufgewachsen. Sie mögen vielleicht Obdachlosen und Alkoholikern helfen, gut. Aber Sie sitzen in sicherer Entfernung da und geben Ratschläge, ohne sich die Hände schmutzig machen zu müssen.”
Sie wurde wütend. Wie zum Teufel konnte er es wagen, sie zu verurteilen?
“Na los, geben Sie’s doch zu. Sie haben in ihrem Leben nie etwas angestellt, oder? Nein, Sie brechen keine Regeln. Sie sind als Jugendliche nie zu spät nach Hause gekommen. Vermutlich haben Sie noch nicht mal einen Strafzettel bekommen.”
“Nun, Mr. Oberschlau, da täuschen Sie sich. Ich habe einmal etwas Schlimmes getan.”
“Ach?” Sein Grinsen ärgerte sie nur noch mehr. Nur weil sie nicht gelogen und gestohlen hatte, hieß das doch noch lange nicht, dass sie nicht gelebt hatte. “Was für ein schreckliches Verbrechen haben Sie denn begangen?”
“Ich habe vergessen, ein ausgeliehenes Buch in die Bibliothek zurückzubringen. Ich bekam ein Schreiben, in dem mit einem Haftbefehl gedroht wurde, falls ich das Bußgeld nicht bezahle”, gestand sie.
Sam warf schon wieder den Kopf in den Nacken und lachte sie zum dritten Mal an diesem Abend aus. Er lachte lange. Und laut.
“Das war nicht lustig!”, erklärte Edie wütend.
“Da bin ich mir sicher. Und ich bin mir auch sicher, dass Sie sofort in die Bibliothek gerast sind, um das Bußgeld zu bezahlen.”
“Das ist jetzt nicht fair.”
“Nein Edie, Sie sind es, die nicht fair ist. Solange Sie keine Ahnung davon haben, wer ich bin, sollten Sie sich auch keine Vorstellungen von mir machen. Und vor allem nicht versuchen, mich zu retten. Okay?”
Sie starrte ihn an. Er hatte recht. Bisher hatte sie nicht viel Kontakt mit der Realität gehabt. Schon durch ihre Eltern und dann wegen des Berufs, den sie gewählt hatte, war immer sie diejenige gewesen, die anderen Leuten Ratschläge gegeben und ihre Hilfe angeboten hatte. Aber mal ganz ehrlich, hatte sie auch nur die geringste Ahnung, wovon sie sprach? Wer war sie denn, dass sie sich herausnehmen konnte, anderen Ratschläge zu erteilen? Sie war nie arm gewesen, hatte nie hungern müssen und immer ein Dach über dem Kopf gehabt.
“Sie werden Ihre Patienten erst dann wirklich verstehen, wenn Sie selbst mal was riskiert haben, Edie Preston.”
“Was riskiert?”
“Stellen Sie sich Ihren verborgenen Wünschen. Und akzeptieren Sie Ihre dunklen Seiten.”
Das schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um klarzustellen, dass sie
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