Vier Arten, die Liebe zu vergessen
das Glück, hier zu leben, irgendwie teilen konnte.
»Hört mal, sah das junge Mädchen auf dem Bild vorhin, das mit der Viola
oder Bratsche oder was das war, nicht ziemlich genau wie Corinna aus?«, fragte
Bernd irgendwann später, als sie in einer der Kirchenbänke saÃen und den
gigantischen Raum auf sich wirken lieÃen.
»Jetzt, wo duâs sagst.« Michael nickte.
»Nur die Haare wären lockiger«, sagte Thomas.
»Habt ihr mal was von ihr gehört?«, fragte Bernd.
»Meinst du vor der Hochzeit oder danach?« Thomas hatte ein Lächeln
im Gesicht, an dem Michael ablesen konnte, dass sie auch mit ihm geschlafen
hatte. In Bernds Gesicht war nichts zu lesen, er sagte: »Danach« und wandte
sich dem Triptychon zu, vor dem sie standen. »Ist das auch von Bellini?«
»Ist es«, sagte Michael.
»Ich hab sie mal in der Stadt getroffen, bei einer
Audi-Präsentation«, sagte Thomas.
Michael fühlte so etwas wie Stolz auf Thomas, darauf, dass er nichts
auÃer diesem kleinen Lächeln herausgelassen hatte. Er war diskret.
Michael antwortete nur mechanisch und halbherzig auf Bernds Fragen
über Pietro Lombardo und dessen Figuren. Er war abgelenkt, weil er an Corinna
dachte. Hatte die Affäre mit Thomas länger gedauert? War Thomas verliebt in sie
gewesen? Hatte sie ihm Hoffnungen gemacht? Aber nein, sicher nicht. So kurz
nach der Hochzeit hätte sie keine Scheidung in Aussicht gestellt.
Sie hat uns noch schnell ausprobiert, dachte Michael, kurz nach
Torschluss. Und ausgerechnet Bernd, dem Allesfresser, schien sie nicht die Ehre
gegeben zu haben. Der Gedanke war komisch. Ein heimlicher Witz.
Kein Witz hingegen war, dass sie ihren Mann mit zwei seiner besten
Freunde hinterging. Und dass diese Freunde dabei mitmachten. Er selbst hatte
nichts geahnt, aber Thomas? Wusste der damals Bescheid? Michael würde ihn nicht
danach fragen.
Als Bernd nach einem Streifzug durch die Kirche zu ihnen
zurückgekommen war, standen sie auf und gingen nach drauÃen. Auf einmal wirkte
Wagner traurig, wie er da stand und über den Platz starrte â eben hätte Michael
ihn noch für mürrisch gehalten, jetzt tat er ihm leid. Dabei war das alles so
lange her. Es bedeutete nichts mehr. Schnee von vorgestern.
~
Dass Corinna mit Thomas und ihm im Bett gewesen war,
nachdem sie einander schon aus den Augen verloren hatten, erschien Michael wie
eine Art Exorzismus, als habe sie geglaubt, sie müsse eine Bindung kappen, die
sonst weiterbestanden hätte, oder sie müsse sich vergewissern, dass an jedem
von ihnen nichts Besonderes war. Damit hatte sie sicher recht. Sie waren zu
viert etwas gewesen, das andere beeindruckt hatte, jeder für sich alleine gab
nur ein ebenso mageres Studentchen ab wie alle anderen, die durch Schwabing,
Haidhausen und Giesing schlurften. Dass sie aber bis nach ihrer Heirat gewartet
hatte, um Thomas und ihn zu testen, durfte Wagner auf keinen Fall erfahren. Es
würde ihn zerschmettern.
Die Nachtigallen waren schon damals nicht geschwätzig gewesen. Ãber ihre
Kindheit, ihre Zeit vor dem Internat, hatten sie nicht gesprochen. Keiner von
ihnen zog die anderen ins Vertrauen. Unsicherheit, Angst und Traurigkeit waren
etwas, das jeder mit sich allein ausmachte. Miteinander gingen sie frotzelnd,
fordernd und provozierend um â es ging darum, sich jetzt zu beweisen â, die
Vergangenheit erklärte nichts, änderte nichts, war unwichtig. Wichtig war, dass
man den Ton traf, eine gute Idee hatte oder einen Witz wusste, den die anderen
noch nicht kannten.
Emmi Buchleitner hatte die richtigen vier Jungs zusammengebracht,
die nicht erst lang und breit einen Kodex für ihren Umgang miteinander
vereinbaren mussten. So verschieden sie auch als Charaktere waren, der milde
und zurückgenommene Michael, der selbstsichere Thomas, der irrlichternde Bernd
und der radikale Wagner, die Ãbereinkunft, dass man die anderen nicht löcherte
oder sich ihnen aufdrängte, hatten sie mitgebracht, die musste nicht mehr
ausgehandelt werden.
Als Michael an Emmi dachte, bewunderte er einmal mehr die Klugheit,
mit der sie gerade diese vier Knaben zu einer Einheit verschmolzen und damit
nicht nur als Störfaktoren neutralisiert, sondern sie im Gegenteil zu
Vorbildern hatte wachsen lassen, zu leidlich guten Schülern und jungen Männern
mit einem Ziel vor Augen und damit einer Zukunft.
Dass diese Zukunft dann die Studentenzeit
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