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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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unseres Sohnes miteinander viele wunderschöne Erlebnisse haben: Wir machten eine Touristen-Bootsfahrt auf der Spree, besuchten das deutsch-französische Volksfest, kauften uns dort Zuckerwatte und gebrannte Mandeln und fuhren Riesenrad, wozu sich Tibor Julius zuliebe überwinden musste, weil er lieber Achterbahn mochte – aber so wilde Sachen konnten wir mit meinem Bauch nicht unternehmen. Wir hörten mit Julius alle Arten von Livemusik, die man sich nur vorstellen kann – von Klassik im Konzerthaus am Gendarmenmarkt bis zu experimenteller Musik aus Kasachstan. Am Wochenende unternahmen wir Fahrradtouren, gingen ins Museum, fuhren noch einmal zu meinen Eltern in die Oberlausitz oder spazierten durch das uns weniger bekannte Berlin. Das waren Wochen voller Eindrücke, Erlebnisse, Lachen und Pomiezeln. Diese Vokabel hatte Tibor für Julius erfunden, der sich tatsächlich mit seinem Po immer nach oben schob, wenn Tibor mir abends den Bauch einölte.
    Diese zwei Seiten der Medaille wechselten Tag für Tag – mal zeigte sich die helle, mal die dunkle Seite. Mir wurde ein Satz immer wichtiger, ja, wurde zu meinem Satz – ich hatte ihn im Buch einer amerikanischen Mutter gelesen, in dem sie über ihre kurze Zeit mit ihrem Sohn Gabriel berichtete, der kurz nach der Geburt gestorben war:
    An Abtreibung,
hatte Amy Kuebelbeck darin geschrieben,
dachte ich nie. Warum soll man ein Leben, das ohnehin so kurz ist, noch kürzer machen?
    Das hätte ich trotz aller Tränen, die ich vergießen musste, auch nicht gewusst …
    Ich bewunderte Tibor, der durch genauso tiefe Täler wie ich gehen, aber trotzdem jeden Morgen so fit sein musste, um gegen acht Uhr das Haus zu verlassen. Seine Chefin fragte ihn eines Tages besorgt, warum er denn immer so ernst, ja fast unglücklich aussehe. Also fasste Tibor sich ein Herz und erzählte ihr unsere Geschichte. Seine Chefin war betroffen und sehr verständnisvoll. So konnte Tibor immer dann früher gehen, wenn wir alle drei als Familie bei den Arztbesuchen erscheinen wollten. Sie gab ihm auch für die Zeit nach Julius’ Geburt den Rat, sich in diesem Fall freizunehmen. »Nimm keinen Urlaub«, meinte sie, »lass dich krankschreiben, denn den Urlaub wirst du später noch brauchen!« Tibor erzählte unsere Geschichte kurze Zeit später auch seinen Kollegen und musste nach diesem Gespräch keine mangelnde Anteilnahme fürchten – ganz im Gegenteil: Seine Kollegen waren sehr erschüttert. Sie verstanden es aber auch, ihn auf behutsame und ungezwungene Weise aufzumuntern. Er erklärte ihnen, dass er natürlich traurig sei, dass er manchmal kurz verschwinden müsse, um allein zu sein, aber dann sei es wieder okay. »Wir können gern ein Bier trinken gehen«, sagte er ihnen, »ihr könnt alles fragen, ich kann euch alles erzählen, aber behandelt mich bitte wie einen normalen Menschen …«
    Ich dagegen hatte nicht diese tägliche Ablenkung durch eine Arbeitswelt, die mit unseren Problemen nichts zu tun hatte – einerseits leider, andererseits Gott sei Dank, wusste ich doch, dass ich das nicht ertragen hätte. Doch das Problem stellte sich mir nicht – Tibor verdiente für uns beide mehr als genug, und ich konnte mich ganz mit Julius und mir beschäftigen, was mir nicht schwerfiel. Ich hatte sogar das Gefühl, dass alles, was ich in diesen Wochen anfasste, mit Julius zusammenhing, ob ich das wollte oder nicht.
    So fragte mich unsere Psychologin Anfang August, ob ich Lust hätte, bei einem Video mitzuwirken, das der »Sozialdienst katholischer Frauen« produzieren lassen wollte. Darin sollten Klientinnen über ihre Erfahrungen mit der Arbeit des SkF berichten. Ich sagte zu, nachdem ich mit Tibor darüber gesprochen hatte.
    Als ich dann zum abgemachten Termin erschien, bereute ich meine Entscheidung fast. Ich hatte gedacht, ich käme in einen halbdunklen Raum, wo nur eine Kamera wäre und ein Kameramann und sonst niemand, wo ich mich also geborgen fühlen könnte. Aber es erwartete mich ein grell ausgeleuchtetes Studio mit dem Filmemacher und Kameramann Georg Schönharting, seinem Assistenten, dem Tonmann, seiner Make-up-Frau sowie Mitarbeiterinnen und Klientinnen vom SkF. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle kehrtzumachen und hinauszulaufen. Dann sollte ich noch geschminkt und frisiert werden – wie ich das hasse! Aber selbst dazu ließ ich mich überreden, und schon fand ich mich vor einem weißen, gut ausgeleuchteten Hintergrund wieder, wo ich meine Erfahrungen mit

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