Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
wäre, ihr Gesicht zu sehen. Warum, das weiß ich nicht.
Trotz dieses starken Gefühls lege ich mich wieder auf den Rücken und schließe die Augen. Ich werde ganz ruhig, bin schon fast wieder drüben in Hypnos Reich, als mich plötzlich eine überwältigende, regelrecht gewalttätige Nervosität ergreift. Mit klopfendem Herzen richte ich mich im Bett auf und starre in das Halbdunkel des großen Raumes, der eigentlich unser Wohnzimmer sein sollte.
Nein, es ist nicht das schwarze Tier, das da steht und mich anglotzt. Das Wesen, das sich nur wenige Meter von mir entfernt aus der Dunkelheit schält, ist viel viel kleiner, schmale Schultern und dünne Beine. Es erscheint nahe der Wohnungstür und schaut in meine Richtung. Eines seiner Augen ist von dem großen Verband bedeckt, der seinen Kopf umschlingt. Zusammengehalten wird der Verband von matt glänzenden, brutal aussehenden Metallklammern.
Ich schaue das kleine Mädchen an und das kleine Mädchen schaut mich an. Sie ist höchstens sechs oder sieben. Auf einmal überfällt mich eine schwere, kaum fassbare Traurigkeit … es ist, als würden Schmerz und Verzweiflung dieses schmalen Wesens auf mich übergehen, mich niederdrücken. Mein Leib ist wie aus Blei und nur mit Mühe kann ich meinen Oberkörper aufrecht halten. Ohne dass ich es will sinkt mein Unterkiefer herab. So muss man sich fühlen, wenn man nicht mehr genug Kraft hat … wenn es zu Ende mit einem geht. Vielleicht kennt Strauss dieses Gefühl … vielleicht wird er es erst noch kennen lernen. Das ist keine einfache Müdigkeit, das ist das Schwinden allen Lebens.
Während ich kämpfen muss, um aufrecht sitzen zu bleiben, macht das kleine Mädchen einige Schritte in meine Richtung. Sie kommt zu mir, zu mir ans Bett. Während sie ihre kleinen Kinderschritte macht, streckt sie mir einen dürren Arm entgegen, die Hand hat sie zur Faust geballt. Das kleine Mädchen hält etwas umschlossen … sie bringt es mir ans Bett, sie will mir etwas geben.
Auf einmal – ich bin zu schwach und zu traurig, um mich zu fürchten – erscheinen hinter dem Mädchen zwei Hände, zwei Erwachsenenhände. Sie schweben einfach in der Luft, ohne Arme, ohne Leib. Aber sie sind nicht wie abgeschnitten, nicht in ihrer Form begrenzt. Es sieht aus, als würden sie aus der Luft herauswachsen.
Diese beiden Hände legen sich auf die Schultern des Mädchens und ziehen meine nächtliche Besucherin zurück Richtung Wohnungstür, weg vom Bett, weg von mir. Auf halbem Weg lässt das Mädchen den Arm sinken.
Als das Kind in dem weißen Kleid wieder dort steht, wo ich es zuerst gesehen habe, da erscheinen hinter ihm zwei weitere Erwachsenenhände. Während das Paar, das zuerst da war, weiterhin das Mädchen an den Schultern festhält, zupft und drückt das zweite Paar am Verband des Kindes herum. Ganz offensichtlich empfindet das kleine Mädchen Schmerz, es windet sich, versucht dem Drücken und Zupfen zu entkommen. Doch der Griff an den Schultern ist zu fest, sie hat keine Chance.
Und dann beginnt das zweite Paar Hände damit, den Verband zu lösen. Lage um Lage wird abgetragen, gleich müsste freiliegen, was immer sich unter diesem Verband verbirgt. Es ist totenstill im Zimmer, sogar das Rauschen der Blätter hat aufgehört … sogar Paulas Atmen hat aufgehört.
Erschrocken über die unnatürliche Stille drehe ich mich zu Paula. Nein, sie liegt nicht mehr auf der Seite, sie sitzt aufrecht im Bett und schaut mich mit ihrem intakten Auge, dem linken Auge, an. Das rechte Auge hängt ihr aus dem Schädel wie eine Wurst, fast bis hinunter zum Mundwinkel, weiß und glänzend, ganz am Ende die schleimige, unförmige Pupille. Ich schreie, schreie und schreie. Was ist das? Was ist mit ihrem Auge? Wieso hängt ihr das so aus dem Kopf? Und dann packt mich plötzlich jemand von der anderen Seite, hält mich fest, sagt etwas zu mir, hält mich ganz fest umschlungen … und als ich ihre Stimme erkenne, da beruhige ich mich langsam, da wehre ich mich nicht mehr. Es ist Paula, Paula spricht leise auf mich ein. Und ihr Auge hängt überhaupt nicht raus, es ist dort, wo es sein muss, es ist rund und fest und nicht wie ein fetter weißer Wurm, der … Oh Paula, Paula, Paula, das warst gerade nicht du, das war irgendetwas anderes. Das war ja überhaupt die falsche Seite vom Bett, du liegst doch immer links von mir. Bitte sag mir, dass nicht du das warst. Bitte sag mir, dass alles in Ordnung ist. Warum schaust du mich denn so böse an?
***
„Dann
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