VILM 02. Die Eingeborenen (German Edition)
War dies eine späte Folge von dem, was geschehen war? War es ein Irrtum, als Will meinte, den Mann und seine aufdringlichen Apparate auf immer losgeworden zu sein? Dieser Apparat hier war aufdringlicher. Er ging so weit zu töten. Nur um etwas herauszufinden.
Tom wurde schwächer und konnte sich nicht mehr halten; der schwere Körper entglitt langsam seinen Händen. Vorsichtig ging Tom in die Knie. Er zitterte am ganzen Leib. Eine der empfindlichen Mittelpfoten streckte sich, so weit es ging, und berührte ein Knie. Nie wieder im Regen duschen, dachte Tom, damit ist es vorbei. Erinnerungen flatterten durch sein Bewusstsein, trafen ihn wie die Tropfen eines Regengusses. Jener Tag, an dem er vollständig wurde und den heftigsten Schauer Vilms sah, den er je erlebt hatte. Die staunende Freude, die seltene Sonne; das Lachen, als er das wärmende Licht spürte und diesen gleißenden Ball am Himmel sah – an einem tintig dunkelblauen Himmel, der durch ein Loch in mattgrauen Wolken leuchtete, das sich in wenigen Augenblicken schließen würde. Auf beiden Seiten zugleich um ein Gestrolch herumlaufen, so schnell wie es geht. Der sanft brennende Geschmack von Rotschoten in Blattröhrensaft, und das wirbelnde Gefühl im Hinterkopf. Das scharfe Gehör, mit dem man hören konnte, was auf der anderen Seite einer gepanzerten Wand gesprochen wurde. Das Spiel mit Wurbls am Rande des Gebirges. Die Wut der Einarmigen Eliza, wenn sie wieder einmal etwas überhaupt nicht verstanden hatte. Das Klingen seines Inneren beim Ausprobieren einer neuen, unbekannten Rätselfrucht. Die juckende Narbe am Hals, dicht an der Kehle, genau da, wo der Arzt ihm den Hals aufgeschnitten hatte.
All das rauschte als unzusammenhängender, chaotischer Film durch Toms Bewusstsein, und er spürte, wie das Leben aus ihm herausrann. Er erinnerte sich an sein Experiment, die Wirkung der Kaktuspflaume am eigenen Körper zu erfahren. Er kannte die Funktionen seiner physischen Existenz. Er wusste, wo sein Herz schlug und wie die langgestreckte Pumpe arbeitete, die das milchfarbene Blut durch den Körper des Eingesichts trieb. Und so wusste er auch, dass diese Pumpe mit letzten verzweifelten Bewegungen ihre Arbeit einstellte und stehenblieb. Seine Erinnerungen, seine Wünsche, seine Ängste schwanden dahin. Das Eingesicht starb, und Tom hatte keinerlei Zweifel, dass er damit als Person starb. Es mochte ein unverletzter Körper mit allen äußeren Kennzeichen eines Homo sapiens übrig bleiben. Das würde jedoch nicht Tom sein. Seine Erinnerungen und sein Leben würden ausradiert werden. Tom dachte an Lukas und Toron, die auf eine gewisse Weise unsterblich geworden waren. Ihm würde das verwehrt bleiben. Da war kein wildes Eingesicht, um den vakanten Platz zu besetzen – und natürlich war die Technik der Rätselfrüchte noch lange nicht so weit, dass man Torons Erlebnis einfach so nachvollziehen könnte. Tom spürte beim Gedanken an die beiden keinerlei Gefühl. Kein Bedauern. Er hielt den pelzigen Körper so fest, dass alle seine Muskeln schmerzten, und bemerkte mit wachsendem Entsetzen, dass ihm immer größere Teile seiner Erinnerungen und Fähigkeiten fehlten. Vor wenigen Augenblicken hatte er eine mörderische Wut auf diejenigen gespürt, die ihm dies antaten. Jetzt war da nichts mehr. Keine Wut, kein Ärger. Wo er Gefühle erwartete, war eine grausige Schwärze. Eine so tiefe Dunkelheit, dass man sie anfassen konnte. Und jede Berührung würde wehtun. Das wusste er. Und Tom erfasste, dass rings um ihn Mauern aus düsterer Finsternis emporwuchsen und immer näher rückten. Er selbst verwandelte sich in eine dünne Folie, die an dieser Mauer klebte und langsam fadenscheinig wurde. Auch die Wirklichkeit wurde seltsam flach. Tom schaute auf den leblosen Körper in seinen Händen, und die Hände waren so furchtbar weit entfernt. Sie ließen das Eingesicht los. Milch wurde von dem schwammartigen schwarzen Zeug aufgesaugt. Der schöne Kopf mit den weit offenen Augen schlug auf dem Boden auf. Die Augen bewegten sich nicht. Tom schrie, und er schrie so laut, wie er es niemals getan hatte. Es tat so weh, so höllische Schmerzen, das Dunkel tat so weh. Es war eine Qual, von der Dunkelheit berührt zu werden. Tom schrie und ging in die Finsternis hinein.
»Offensichtlich überschreitet die ultimative Trennung die Anpassungsfähigkeit des Wesens völlig.«
»Offensichtlich. Stellen Sie bitte die Tonwiedergabe ab. Oder wenigstens leiser. Das Gebrüll ist nicht
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