Vilm 03 - Das Dickicht (German Edition)
Jona.
Sergios streifte ihn mit einem abwesenden Blick und schaute wieder durch das Fenster. Sein Magen hatte sich inzwischen daran gewöhnt, in unregelmäßigen Rhythmen herumgeschlenkert zu werden, und der Modergestank des Astwürgersalats war verflogen.
»Worum herum?«, fragte er.
»Es gibt eine Hochebene, eine halbe Tagesreise entfernt, über die man bedeutend schneller ans Ziel käme«, erklärte Jona. »Dort leben einige Tiere, die Ärger machen können. Ungeheuer der Regenwelt, mächtig an Kraft, arm an Geist, gefürchtet von den Geschöpfen der Regendrachen.«
Sergios sah mit großen Augen um sich; dies war ein Fahrzeug in der Größe eines Mehrfamilienhauses, das sich auf gelenkigen Armen und federnden Stangen durch eine nässetriefende Wildnis schwang. Das Eingesicht schüttelte den Kopf, als wäre ihm dieses Thema unangenehm, während Jona-A den Zentralier über die Existenz von riesigen Wurbls aufklärte, die durchaus gewaltsam an das gelangen konnten, was für sie Nahrung darstellte: die Passagiere.
»Solche Viecher wiegen etliche Tonnen«, setzte Jona hinzu.
»Oh«, sagte Sergios. Eine weitere Information, die in der Vilm-Literatur nicht auftauchte.
Die Passagiere wurden unruhig und fingen an, ihre Siebensachen zusammenzukramen, was in den Augen von Thanassatrides seltsam aussah; menschliche Hände und vilmsche Mittelpfoten verstauten Utensilien in Rucksäcke, Schnauzen stopften Frühstücksboxen in Kofferfächer. Keiner der Mitreisenden hatte Schwebeschachteln dabei.
Während die Landschaft draußen immer wieder herumwirbelte, erhaschte Sergios kurze Blicke auf ein gigantisches Massiv. Als wäre der Horizont von einem riesigen Haufen dampfenden Unkrauts überwuchert. Bei der Ankunft in Gerdastadt entpuppte sich diese Halluzination als schwaches Abbild der Wirklichkeit. Hinter dem kleinen Ort ragte ein ungeheures Ding aus Wurzeln, Blättern und Stämmen in den regnerischen Himmel empor. Sergios starrte es offenen Mundes an und bemerkte nicht, wie der Regen an ihm hinablief. Er schluckte alle paar Augenblicke hinunter, was ihm in den Mund geronnen war. Willkommen auf Vilm. Jona-J stupste ihn mit einer nassen Schnauze an, was ihn aus seiner Trance aufschreckte, und er folgte ihm, ohne den Blick von dem himmelhoch aufragenden Dickicht zu lassen. Thanassatrides hatte gelesen, dass das äquatoriale Gestrolch eine außerordentlich große Sache war. Er hatte Abbildungen gesehen, Animationen, Bildwandtapeten. Nichts davon konnte diesen Eindruck wiedergeben. Eine Mikrobe mochte sich so demütig einem Nilpferd nähern, um fortan in seinem Darm zu leben.
Der Ort Gerdastadt bestand aus kugelrunden Gebäuden – ein Beet mit großen Kürbissen, in die man Fenster und Türen geschnitten hatte. Die Gründerin der Siedlung, Schwester Gerda genannt, hatte mit ihren Vilmkindern und dem geschickten Einsatz von Wirkstoffen, die man aus manchen Schreilenarten gewinnen konnte, aus Gestrolchpflanzen einen Häuslebauer gezüchtet. Dieses unscheinbare Gewächs konnte man mit bestimmten Tricks dazu bringen, statt daumennagelgroßen Früchten solche in den Abmaßen eines Zimmers zu produzieren. Legte man die kirschkleinen Blütenknospen geschickt nebeneinander und manipulierte sie sorgfältig, dann konnte man – in gewissen Grenzen – ein Haus mit einem Grundriss nach Wunsch heranwachsen lassen. Im richtigen Moment wurde der Häuslebauer mit einer Tinktur aus Schleimschnuckenblut vergiftet, und im Todeskampf der Pflanze verfestigten sich die Wände in etwas, das von den Fremdweltlern gerne mit Holz verwechselt wurde.
Von den heranwachsenden Häusern hatte Sergios natürlich gehört. Er fand es dennoch eigenartig, wie eine Ameise durch ein Kürbisbeet zu laufen, triefnass vom Regen, und dabei diese himmelstürmende Wand aus wildgewordener Biologie vor sich zu sehen, die Außenseite eines gigantischen Organismus, der sich, wie Thanassatrides wusste, um den ganzen Planeten zog.
»Und hier wohnst du?«, fragte er Jona.
»Nein«, antwortete Jona-A, dessen Eingesicht weit vorausgelaufen war, »ich wohne nicht hier. Nur freitags.«
Diese Antwort verschlug Sergios die Sprache, aber er konnte nicht nachfragen. Seine Schwebeschachteln folgten ihm nicht so, wie er das gewohnt war. Eine von ihnen bockte und streifte immer wieder den Boden, Matsch verspritzend. An ihren Einstellungen konnte es nicht liegen: Sie ortete anhand seiner Implantate genau, wo er sich befand und wohin er ging, und sie versuchte brav, niemals weiter weg
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