Virgil Flowers 03 - Bittere Suehne
ich das beurteilen kann, hatten Sie keine andere Wahl, Virgil.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Virgil. »Ich hätte den Fall aufgeben können, aber … man macht keinen Deal mit ausländischen Killern, die herkommen, um Menschen zu exekutieren.«
»Sehr wohl ist mir bei dem Gedanken an Polizisten mit Maschinenpistolen allerdings nicht«, sagte Ken Sanders. »Wir verwandeln uns allmählich in eine militärische Einheit. Wir haben MPs, gepanzerte Streifenwagen und Beamte mit kugelsicheren Westen. Situationen wie die heute Morgen können fast nur übel enden, mit so vielen bis an die Zähne bewaffneten Männern. Selbst bei einer ganz normalen Verfolgungsjagd mit dem Auto gibt’s oft Tote, meistens Unbeteiligte, die nur die Straße überqueren wollten …«
»Tja …«, sagte Virgil.
»Wir sollten uns wieder der Arbeit zuwenden«, bemerkte Phillips.
Virgil stand auf und streckte sich. »Stimmt. Ich muss endlich rausfinden, wer die Leute umgebracht hat.«
»Dann fahren Sie in die Twin Cities«, sagte Phillips.
Virgil musste an Sig denken und spielte mit dem Gedanken, bei ihr vorbeizuschauen. Doch vielleicht erlangte der Deuce das Bewusstsein, ohne dass schon ein Anwalt an seinem Bett saß.
Er wollte zu Sig.
Und er musste nach St. Paul.
FÜNFUNDZWANZIG
Virgil rief Signy an, um ihr zu sagen, dass er noch eine Nacht wegbleiben werde. Nicht ganz ohne Skepsis antwortete sie: »Du musst das über die Bühne bringen, Virgil.«
»Sig, ehrlich, es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich lieber sein würde als bei dir.«
»Das glaube ich dir …«
Eine monotone Fahrt auf der I-35 zu den Twin Cities; am Nachmittag gab es nicht viel zu sehen, nicht einmal wie nachts die Sterne.
Er erwischte einen Sender mit Jimmie Dale Gilmores »Dallas«, einem seiner Lieblingssongs, und Lucinda Williams’ Coverversion von AC/DCs »It’s a Long Way to the Top (If You Wanna Rock ’n’ Roll)«. Die Musik machte die Fahrt erträglicher. Bis zum Parkplatz des Regions Hospital kam ihm kein einziger weiterführender Gedanke.
Als er das Zimmer betrat und den Deuce sah, änderte sich das. Das schlaffe Gesicht des Jungen wirkte wie eine dunkle Insel inmitten der weißen Laken, Kissen und Decken. Auf den elektronischen Geräten prangten rote und grüne Zahlen, und durch transparente Plastikschläuche floss klare Flüssigkeit in seinen Körper. Er hatte die Augen geschlossen; sein Atem ging flach.
»War er schon mal wach?«, fragte Virgil eine Schwester.
»Ja, vor etwa einer Stunde, aber es geht ihm nicht besonders«, antwortete sie. »Er hat nichts Zusammenhängendes gesagt und weiß nicht, wo er ist. Er steht unter Schmerzmitteln: ich glaube nicht, dass er heute noch mal aufwacht.«
»Kommt er durch?«
»Die Chancen stehen achtzig zu zwanzig. Sie mussten seinen Darm zusammenflicken, der durch Knochensplitter verletzt wurde. In Beinen und Becken stecken Metallplatten. Zum Glück hat die Wirbelsäule nichts abgekriegt. Die Chirurgen meinen, sie müssen wahrscheinlich noch ein halbes Dutzend Mal operieren, um alles in Ordnung zu bringen – falls das überhaupt möglich ist. Außerdem hat sich die Wunde entzündet. Wenn sich das verschlimmert, kann man nur noch beten.«
Virgil bedankte sich, holte sich in der Cafeteria eine Cola und setzte sich, um nachzudenken. Nach einer Weile warf er einen Blick auf seine Uhr und rief Sandy, die Rechercheurin, an. Sie wollte gerade nach Hause. »Ich brauche Informationen, so schnell wie möglich. Den Überstundenbericht zeichne ich für dich ab. Geht das?«
»Nett, dass du fragst und mich nicht einfach nur rumkommandierst wie dein Dienstmädchen«, antwortete sie.
»Sandy …«
»Verschone mich mit deinem Gesülze, Virgil. Was brauchst du?«
»Okay. Eine Janelle Washington liegt in einem Krankenhaus in Duluth. Ich möchte wissen, in welchem. Ihr Mann heißt James, sie wohnen in Grand Rapids …. Außerdem benötige ich eine Fahrzeugzulassung …« Er nannte ihr alle Punkte auf seiner Liste.
»Und wo willst du hin?«
»Nach Duluth. Scheiße, da war ich vor zwei Stunden. Jetzt bin ich fünfzehn Minuten hier und muss schon wieder zurück.«
»Probleme gibt’s in jedem Leben«, lautete ihr Kommentar.
»Du bist so mitfühlend«, sagte er.
»Lucas ist am Gehen. Willst du noch mit ihm sprechen?«
»Nein, der würde mir wahrscheinlich den letzten Nerv rauben. Ruf mich an, sobald du was weißt.«
Er beendete das Gespräch, holte die Nikon D3 aus seinem Truck und kehrte damit ins Zimmer
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