Virgil Flowers 03 - Bittere Suehne
doch wieder nicht.
Chuck brachte sie in den Lagerraum voller Bierträger und Fässer. Virgil stapelte dreimal zwei Träger übereinander. Wendy hatte ein blaues Auge und tupfte Blut von einem Mundwinkel: ihre Unterlippe war geschwollen. Virgil wies Wendy und Zoe an, sich zu setzen, und sie taten, wie ihnen geheißen, während er in die Bar zurückkehrte, um saubere Handtücher mit faustgroßen Eisstücken zu holen. Berni war umringt von Frauen, die einen Fingernagelkratzer an ihrer Stirn begutachteten. Sie erzählte schluchzend die Mär von Wendys Untreue.
Wieder im Lager, reichte Virgil Wendy einen Eispack und riet ihr: »Legen Sie ihn eine halbe Stunde lang auf Lippe und Auge, dann sieht’s morgen früh nicht so schlimm aus.«
»Ist nicht das erste blaue Auge und wird wahrscheinlich auch nicht das letzte sein«, erklärte Wendy.
»Sie haben also vorletzte Nacht einige Zeit in Erica McDills Hütte verbracht. Hatten Sie ein Verhältnis mit ihr?«
Sie grinste ihn an, und er erkannte, dass der Kampf sie nicht erschüttert hatte. »Klar. Meinen Sie etwa, wir hätten Pinocchio gespielt?«
»Binokel«, korrigierte Zoe sie.
Wendy zuckte die Achseln. »Egal.«
»Wo waren Sie gestern Abend zwischen sechs und acht?«
»Im Schulhaus. Ich hab an einem Song gearbeitet«, antwortete Wendy. »Jedenfalls den größten Teil der Zeit. Ich bin mal raus, ein Sandwich holen und so.«
»Das Schulhaus ist das Aufnahmestudio«, erklärte Zoe.
Virgil nickte. »Wer war alles da?«
»Ich, die Keyboarderin, ein Typ vom College, der die Songs arrangiert, ein Toningenieur, unser Manager, der Junge, der die Pizza gebracht und eine Weile mit uns geplaudert hat … es könnten noch ein oder zwei mehr gewesen sein.«
»Eine ganze Menge Leute, und Ihre Aussage ließe sich überprüfen«, stellte Virgil fest.
»Klar. Ich hab Erica nichts getan. Schließlich hätte sie dafür gesorgt, dass ich Karriere mache. Sie kannte sich aus mit Werbung und PR. Sie wollte mich nach Nashville oder Austin bringen und kannte wichtige Leute.«
»Du hast mit ihr geschlafen, weil sie wichtige Leute kannte?«, fragte Zoe.
»Tja …«
»Die Aktion war also nicht gegen Sie gerichtet, Zoe«, sagte Virgil.
»Nein. Klingt logisch«, meinte Zoe.
»Sie haben ihr ein kleines Andenken an die Nacht gegeben, stimmt’s?«, fragte Virgil.
Wendy sah ihn verständnislos an. »Was für ein Andenken?«
»Einen Kussgruß?«
»Einen Knutschfleck?«
»Nein, einen Lippenstiftkuss auf einer Karte«, erklärte Virgil.
Sie schüttelte den Kopf, nahm den Eisbeutel von der Stirn und betrachtete ihn. An der Stelle, die gegen ihren Mund gepresst gewesen war, befand sich ein kleiner Blutfleck. Ihr Gesicht war von der Kälte gerötet.
»Sie haben keinen Lippenstiftgruß auf eine Karte gedrückt?«, wiederholte Virgil.
»Nein … Haben Sie einen gefunden?«
»In ihrer Handtasche. Ich dachte, er stammt von Ihnen«, antwortete Virgil. »Ich meine, wenn er von Ihnen ist, besteht keinerlei Grund, es abzustreiten. Ist ja nichts Schlimmes dran«, sagte Virgil.
»Ja, aber … von mir ist der nicht«, beharrte Wendy.
»Hm.« Virgil hatte das Gefühl, dass sie log – ihr Blick flackerte –, hatte jedoch keine Ahnung, warum. Vielleicht einfach, weil sie konnte? Nach kurzem Schweigen fragte Virgil: »Sie hat keine anderen Beziehungen erwähnt?«
»Sie hat gesagt, sie hätte eine Frau in den Twin Cities, aber die Beziehung wäre so gut wie zu Ende«, antwortete Wendy. »Sie wollte Schluss machen, ohne ihre Partnerin zu verletzen, ihr Geld geben. Erica hatte ziemlich viel Geld. Sie hat davon geredet, eine Sponsorengemeinschaft für mich zu gründen. Sie war der Meinung, dass ich in drei Jahren eine Million Dollar im Monat verdienen könnte.«
»Oh, Mann«, stöhnte Zoe.
»Sie haben keine Ahnung, warum der Mord passiert ist?«, fragte Virgil.
»Nein, wirklich nicht. Die Angelegenheit hat mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, antwortete Wendy. »Ich hatte gehofft, dass niemand von der Sache mit uns erfährt. Dass ich mit ihr zusammen war, hat nichts mit dem Mord zu tun, obwohl der natürlich kein gutes Licht auf mich wirft.«
Da öffnete sich knarrend die Tür, und Berni streckte den Kopf herein.
»Wendy?«, krächzte sie.
Wendy sah sie kurz an, bevor sie grinsend fragte: »Na, wie geht’s?« Dann trat sie zu ihr, und sie schlangen die Arme umeinander und begannen zu weinen.
Wendy strich Berni über die Haare. »Ist ja gut, ist ja gut …«
Draußen
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