Virgil Flowers - 04 - Blutige Saat
sie bestimmt einen guten Grund.‹«
»Und der war?«, fragte Virgil. »Ihr Mann?«
»Wer sonst? Lucy und ich sind die ersten geschiedenen Frauen in unserer Familie. Ich hatte irgendwann die Schnauze voll von der Faulheit meines Mannes. Bei Lucy war’s übler. Rollo hat sie geschlagen. Und Schlimmeres.«
»Rollo?«
»Roland. Ihr Mann.«
»Was könnte schlimmer sein als Schläge? Hat er sie vergewaltigt?«
Kurzes Zögern. »Soweit ich weiß, ja.«
Virgil, der auf der Wohnzimmercouch saß, beugte sich ein wenig vor. »Ms. Gordon, ich verbringe viel Zeit damit, Leute zu befragen, und merke, wenn sie lügen. Sie wollen mir weismachen, dass Sie nicht wissen, wo sie ist, und nicht mit ihr in Verbindung stehen. Ich muss mit ihr sprechen. Es geht um ernste Dinge. Ich will Ihnen nicht drohen müssen.«
»Damit würden Sie nichts bezwecken.«
»Vielleicht doch. Wir glauben – bitte reden Sie mit niemandem darüber –, dass ihr Mann Mitglied einer Sekte ist, die die eigenen Kinder missbraucht, und Lucy, Birdy, uns in dem Fall weiterhelfen kann. Sie soll eine Aussage machen, die es uns ermöglicht, in die Häuser einiger dieser Leute zu gelangen, sie von ihren Kindern zu trennen und die Kinder an einen sicheren Ort zu bringen, wo wir herausfinden können, was los ist. Wenn Sie sich weigern, uns zu helfen, sind Sie genauso unmoralisch wie die Leute, die diese Dinge tun, weil Sie ihr Treiben sanktionieren.«
»Ich weiß nichts von Kindern«, sagte sie mit nervösem Blick.
»Sie vielleicht nicht, aber möglicherweise Lucy. Hat sie Ihnen geschildert, was ihr Mann mit ihr gemacht hat?«
»Er wollte wohl die Frauen tauschen und vielleicht noch andere Sachen.«
»Was?«
»Ich weiß es nicht. Wir haben uns nicht über die Einzelheiten unterhalten.«
»Wie lange waren die beiden verheiratet?«
»Fünfzehn Monate, also nicht lang. Wollen Sie wissen, warum sie nicht einfach nach Hause gekommen ist, sondern sich versteckt hat?«
»Ja.«
»Weil sie Angst hatte, dass Rollo sie umbringt. Er hat sie verprügelt und gesagt, wenn sie versucht wegzulaufen, erwürgt er sie und vergräbt sie hinter der Scheune. Das wäre anderen Frauen auch schon passiert. Sie hat ihm das geglaubt.«
Virgil holte Luft. »Ich muss mit ihr reden. Wir haben schon vier Leichen.«
»Ich rufe sie an, erzähle ihr von Ihrem Besuch und melde mich dann morgen früh bei Ihnen. Es ist ihre Entscheidung.«
»Machen Sie ihr mal lieber klar, dass es da für sie nichts zu entscheiden gibt – es geht eher darum, ob wir sie aufspüren und sie ins Gefängnis stecken … und Sie mit ihr«, drohte Virgil. »Wenn die Sekte tatsächlich das tut, was wir vermuten, macht sie sich durch Auskunftsverweigerung zur Komplizin. Das Gleiche gilt für Sie, wenn Sie sie verstecken. Erklären Sie ihr, was auf dem Spiel steht, Ms. Gordon.«
Als Virgil weg war, überlegte Louise Gordon und kam zu dem Schluss, dass die Polizei das Telefonat überprüfen und zu Lucy zurückverfolgen könnte, wenn sie von zu Hause aus oder per Handy anrief. Also nahm sie ihr Buch, einen Roman von Diana Gabaldon, und versuchte zwanzig Minuten lang zu lesen. Am Ende legte sie es weg, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Sie musste die ganze Zeit an Flowers denken; sie konnte ihn nicht leiden. Er hatte lange Haare wie ein Ex-Hippie und war alles andere als freundlich zu ihr gewesen.
Aber wenn das mit den Kindern stimmte …
Sie zwang sich, weitere zwanzig Minuten fernzusehen, eine Tiersendung, hielt es schließlich nicht mehr aus, stand auf, zog ihren Parka an, ging hinaus zur Garage, lenkte ihren Honda auf die Straße und fuhr zu Gina Becker, einer alten Freundin, die um acht Uhr mit Sicherheit noch nicht im Bett war. Als sie in ihre Straße einbog, sah sie in den Rückspiegel, ohne Scheinwerferlichter zu entdecken. Paranoia, dachte sie und fuhr weiter.
Virgil hatte hinter Louise Gordons Haus gewartet, sie durch eine Hecke hindurch beobachtet, als sie mit dem Wagen aus der Garage fuhr, und war ihr ohne Licht gefolgt, im Abstand von drei Häuserblocks.
Wie in Homestead war die Strecke, die sie zurücklegen konnte, aufgrund der Ortsgröße begrenzt. Vier oder fünf Minuten, nachdem sie aufgebrochen war, hielt sie vor einem Gebäude, stieg aus und blickte sich um, bevor sie klingelte und eingelassen wurde.
War das Lucys Haus?, fragte sich Virgil. Lebte sie unerkannt in ihrem Heimatort? Vermutlich nicht. Das hätte ihr Mann zu leicht herausbekommen können.
Höchstwahrscheinlich
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