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Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Titel: Virtuosity - Liebe um jeden Preis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Martinez
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gezogen hatte, er könnte mit mir schlafen wollen. Das Geigespielen war eindeutig das Einzige, woran wir beide im Augenblick dachten.
    »Was wolltest du mir zeigen?«, fragte ich.
    »Zwei Dinge. Das erste war meine Violine.« Er stand auf und ging zum Bett hinüber. »Das zweite ist dieses Bild hier.« Er nahm einen Silberrahmen vom Nachttisch und reichte ihn mir.
    Drei Leute posierten am Rande eines Bauernmarktes für die Kamera. Sie standen vor einem Obst- und Gemüsestand, hinter dem sich Kisten mit Möhren, Tomaten und Auberginen türmten. Unter dem Ladentisch stapelten sich größere Kisten auf dem Kopfsteinpflaster. Links im Bild stand eine erschöpft aussehende Frau, groß und dünn mit strähnigen blonden Haaren und einer so blassen Haut, dass man die Venen an ihren Schläfen sehen konnte. Sie wirkte alt, aber als ich mir ihr Gesicht genauer ansah, bemerkte ich, dass sie es nicht war. Sie sah einfach nur müde aus.
    Ganz rechts lehnte Jeremy mit verschränkten Armen gegen den Ladentisch und sah wie eine jüngere, widerstandsfähigere Version der Frau aus. Er hatte die gleichen blonden Haare und die gleiche schlanke Statur, aber er war muskulös und braungebrannt. Das Foto musste erst kürzlich gemacht worden sein, denn es war der Jeremy, den ich wiedererkannte, nicht der kleine Junge vom Foto im Carnegie-Hall-Programm.
    Zwischen den beiden saß ein Junge in einem Rollstuhl. Der Stuhl stand seitlich, aber der Junge hatte sich umgedreht und sah direkt in die Kamera. Seine rötlichen Haare waren ihm ins Gesicht geweht und verdeckten halb die Augen. Er hatte die blasse Hautder Frau, aber Jeremys Kinn und den gleichen fest entschlossenen Blick.
    »Dein Bruder?«
    »Ja, genau«, erwiderte Jeremy.
    »Und deine Mom?«
    »Richtig.«
    »Wie alt ist dein Bruder?« Seine Gesichtszüge wirkten noch jung, aber seine Glieder waren bereits ausgewachsen.
    »Dreizehn.«
    »Meine Mom hat einen riesigen Garten zu Hause«, fuhr er fort. »Es ist ihr Hobby, aber sie nimmt es ziemlich ernst. Eigentlich ver­bringt sie dort jede freie Minute. Das Foto wurde auf einem Bauern­markt in Leeds gemacht. Da wohne ich, oder besser gesagt, da wohnen sie. Ich weiß nicht einmal, wo ich eigentlich lebe. Surrey, wahrscheinlich.«
    »Und brauchte dein Bruder schon immer einen Rollstuhl?«
    »Nein. Als er vier war, hat man bei ihm eine Muskeldystrophie festgestellt, aber den Rollstuhl braucht er erst seit letztem Jahr. Bei einer Muskeldystrophie wird alles ganz langsam immer schlimmer.«
    Ich starrte wieder auf den Jungen und bemerkte jetzt erst die verdrehten Hände im Schoß und seine gekrümmte Haltung.
    »Wie langsam?« Ich hatte es kaum ausgesprochen, als ich es am liebsten sofort wieder zurückgenommen hätte.
    »Meinst du, wann wird er sterben?«
    Ich antwortete nicht und hielt meinen Blick auf das Foto gerichtet: der erschöpfte Gesichtsausdruck der Frau, der herausfordernde Blick des Jungen, Jeremys athletische Statur und dann wieder die Frau. Ich sah zu Jeremy auf und nickte. Er schien so furchtbar sachlich und gelassen. Er hatte die Arme immer noch hinter dem Kopf verschränkt und sah den langsamen Umdrehungen des Decken­ventilators zu. Seine Stimme klang nicht anders als die, mit der er vor ein paar Stunden eine Cola bestellt hatte.
    »Die Ärzte wissen es nicht oder wollen es uns nicht sagen. Zumindest mir nicht. Robbies Fall ist aggressiv. So heißt er übrigens, Robbie. Wenn es stimmt, was ich gelesen und gehört habe, wird es in ungefähr einem Jahr so weit sein. Aber das habe ich mir bloß von meiner Google-Suche und Gesprächen zwischen meinen Eltern, die ich nicht hören sollte, zusammengereimt. Mit mir spricht niemand darüber.«
    »Wie schrecklich«, antwortete ich. Was für eine lahme Reak­tion. Aber was hätte ich sonst sagen sollen? Vielleicht am besten gar nichts.
    »Ich muss gewinnen, Carmen.«
    Der Satz kam aus dem Nichts hervorgeschossen. Wir saßen stumm da, während seine Worte den Raum zwischen uns in Brand steckten. Meine Ohren und mein Gesicht wurden heiß.
    »Ich muss gewinnen«, wiederholte er. »Für Robbie. Es ist das einzig Große, das ich für ihn tun kann. Ich weiß nicht einmal, wie lange er noch in der Lage sein wird, mir zuzuhören …« Seine Stimme brach, er sah auf seine Hände und spreizte die Finger so weit wie möglich. Er wirkte wie jemand, der sich anstrengen musste, um nicht zu weinen. Seine Nasenflügel bebten, die Augen glänzten und das Kinn war eingezogen. »Du bist die Einzige, die mich

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