Virus (German Edition)
das er unweit der technischen Sperre im
eingezäunten Bereich geparkt hatte. Unmittelbar, nachdem Herforth ihn über
seine Suspendierung informiert hatte, hatte er die Polizeidirektion verlassen,
denn er hatte nicht auf den offiziellen Schreibkram warten wollen. Der hätte
bedeutet, dass er seine Dienstmarke und -waffe hätte abgeben müssen. Doch
beides würde er noch benötigen.
Die Dienstwaffe, die harmlos wie
eine Tüte mit Einkäufen auf dem Beifahrersitz lag, sollte eine tragende Rolle
im letzten Akt spielen, seine Dienstmarke hatte er gebraucht, um an den
Handlungsort desselben zu gelangen. Hier im eingezäunten Bereich sollte er
stattfinden – dort wo das Ende begonnen hatte.
Wegmann ließ die letzten zwei
Tage noch einmal im gedanklichen Schnelldurchlauf passieren. Mit dem Tod des
chinesischen Professors hatte das Chaos begonnen und eine Kette von Ereignissen
ausgelöst, über die er zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle hatte gewinnen können.
Dann hatte er den Tod des
kanadischen Wissenschaftlers nicht verhindert, obwohl die Amerikanerin und der
Pfarrer ihm dies auf dem Silbertablett zu servieren bereit gewesen waren. Schon
da, am Vorabend, hatte er Schluss machen wollen. Doch dann war Drivers Anruf
dazwischengekommen und hatte ihn innerhalb weniger Augenblicke auf ein Neues
korrumpiert.
Ein guter Mensch hatte er wieder
sein wollen, integer und aufrichtig, so wie in seiner Jugend, doch ein einziger
Anruf hatte ausgereicht, all seine tugendhaften Absichten einfach wieder über
den Haufen zu werfen. Er war schwach.
Noch einmal in den Spiegel gucken
können – das war alles, was er sich gewünscht hatte. Noch einmal etwas Gutes
tun. Doch dann hatte er die nächste Gelegenheit ergriffen, etwas Schlechtes zu
tun, angetrieben von Neid, Hass und Stolz. Neid, Hass und Stolz – genau diese
Attribute hatten ihn überhaupt erst korrumpiert, so wie sie es mit jedem
Menschen taten. Neid und Hass hatten seine Seele zerfressen, während sein Stolz
ihm ein sozialunverträgliches Ego verliehen hatte.
Auf diese Weise hatte er nach und
nach alle seine Freunde verloren, und er war sich in diesem Moment, da er sein
Leben objektiv und von außen betrachtete, sicher, dass auch seine Familie ihn
verlassen hätte, hätte er seiner Frau nicht durch ständige Erniedrigungen ihr
Selbstvertrauen und ihren Willen geraubt. Er hatte sich immer vorgemacht, nicht
für ihre Veränderungen verantwortlich, ja sogar selbst der am schwersten unter
ihnen Leidende zu sein, doch aus seinem tiefsten Unterbewusstsein hatte er die
Selbsterkenntnis, seine Frau bewusst ihres Willens zu berauben, um sie
willfährig zu machen, nie wegwischen können.
Die Familie. Er würde sein Haus
nicht behalten und seinen Kindern nicht die Ausbildung finanzieren können, die
er sich für sie erwünscht hatte. Ohne die vertraute Umgebung, in die sich seine
Frau wie in ein Schneckenhaus zurückgezogen hatte, konfrontiert mit der
Aufgabe, in der Realität funktionieren zu müssen, würde sie ihn schnell
verlassen, und er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Er hätte das Gleiche
getan. Wenn man spitzfindig sein wollte, konnte man fast sogar sagen, dass er
das Gleiche zu tun gedachte. Sich zu verlassen.
Er würde nicht einmal mehr
Gelegenheit haben, sich bei ihr für die Jahre der Erniedrigung zu
entschuldigen. Alles was er noch für seine Familie tun konnte, war, dafür zu
sorgen, dass sie seine Rente beziehen würde. Die Rente, auf die er selbst
lebend nie einen Anspruch haben würde.
123.
Das Zimmer in der kleinen Pension
‚Ostsee’ in Bad Doberan war einfach und sparsam eingerichtet. Das Doppelbett
mit seiner kitschigen Tagesdecke im siebziger Jahre Blumenmuster füllte nahezu
den gesamten Raum aus. Die gelb-braunen Tapeten ließen nur noch dunkel erahnen,
dass sie irgendwann einmal ein Muster getragen haben mussten, wahrscheinlich
ebenfalls Blumen.
Den einzigen Pluspunkt bildete
das en suite gelegene Badezimmer, was in Pensionen dieser Kategorie
durchaus nicht obligatorisch war. Ansonsten befand sich in dem Zimmer lediglich
ein winziger Sekretär, auf dem ein ebenso winziger Fernseher stand, der
möglicherweise der ersten Generation von Farbgeräten entsprang. Eine
Fernbedienung gab es nicht.
Doch zum Fernsehen war Bobby Ecram
auch nicht an die Ostsee gereist. Er saß auf dem Bett, den Rücken aufrecht gegen
das Kopfteil gelehnt und die Beine ausgestreckt. Bobby war groß gewachsen, fast
eins neunzig, hatte breite Schultern und modisch kurzes,
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