Vision - das Zeichen der Liebenden
Alex die altmodische Zeremonie mit ihren symbolischen Ritualen. Sie fand in der alten Kirche statt und begann damit, dass der Kinderchor die Schulhymne vortrug. Dann folgte ein halbes Dutzend kurzer, feuriger Ansprachen. Lehrer, Schüler, Ehemalige, Sponsoren, angesehene Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur… Alle hatten ihren großen Auftritt, ihre fünf Minuten am alten Stehpult, um zu sagen, wie großartig die Schule war und wie viel sie zur Ausbildung zukünftiger Generationen und zur Entwicklung der Gesellschaft beitrug.
Am meisten mochte Alex den Schlussteil der Zeremonie. Wenn das Licht ausgeschaltet wurde und der Direktor in andächtiger Stille nacheinander sieben Öllampen anzündete, die er den sieben Schülern in der letzten Reihe überreichte. Diese trugen die Lampen vorsichtig zum Altar und erhellten damit den Mitschülern symbolisch den Weg zum Wissen. Hier wurden ihnen von den Lehrern Gegenstände überreicht, die die sieben freien Künste verkörperten: ein Zirkel, eine Schiefertafel mit Griffel, eine Lyra, ein Rechenseil, ein Astrolabium, ein Buch mit einer Rute und als Letztes ein auffälliges Medaillon mit einem Hundekopf darauf. Es war ein bedeutungsvolles Ritual, in uralten Traditionen verwurzelt, die sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen ließen. Im Vorjahr war er einer der Schüler gewesen, die für die Prozession auserwählt wurden. Er hatte das Astrolabium empfangen, das Symbol für die Astronomie. Dieses Jahr kannte Alex keinen der Jungen und Mädchen, die darauf warteten, die Öllampen zu tragen.
Er saß neben seiner Schwester, die unruhig auf der Bank hin und her rutschte, weil sie sich das Ende der Zeremonie herbeiwünschte, und sah sich verstohlen um. Ein paar Reihen weiter vorn entdeckte er Erik und auch ein paar andere Freunde waren in dem großen Raum verteilt. Nur Jana fehlte. Anscheinend war sie nicht gekommen.
Kaum hatte er das festgestellt, war es mit seiner Konzentration auf die Zeremonie vorbei. Diesen sinnbildlichen Auftakt des Schuljahres zu verpassen, galt in Los Olmos als Akt der Disziplinlosigkeit. Jana würde triftige Gründe für ihr Fehlen vorbringen müssen. Er hoffte, dass sie welche hatte. Ob sie krank war?
Alex’ Stimmung sank, selbst das Ritual mit den Öllampen, bei dem er bisher jedes Jahr einen Kloß im Hals gehabt hatte, ließ ihn kalt. Ein furchtbarer Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Was, wenn Jana etwas passiert war? Wenn sie gar nicht mehr in die Schule kam? Wie sollte er sie dann wiedersehen? Er bezweifelte, dass er die Villa in diesem unheimlichen Viertel noch einmal finden würde. Konnte es sein, dass er daran schuld war, dass sie jetzt nicht hier saß? Hatte sie beschlossen, dass es besser war zu verschwinden, weil David ihm dieses verdammte Tattoo in die Haut geritzt hatte? Schließlich hatte sie keine Eltern und außer ihrem Bruder auch sonst niemanden mehr. Da war niemand, dem gegenüber sie sich rechtfertigen musste.
Das Ritual endete wie jedes Jahr mit halbherzigem Beifall, dann strömten die Schüler in den Hof hinaus, wo sie darauf warteten, von den Klassenlehrern in ihre Klassen gerufen zu werden.
Als Alex aus der Kirche trat, brach eine regelrechte Lawine von Eindrücken über ihn herein: das fast unhörbare Raunen des Herbstwindes in den Zedernwipfeln, das Knirschen der vielen Schritte auf den Kieswegen, das leise Plitsch einer Münze, die in den Teich fiel, der Geruch von frisch gemähtem Gras, Duschgel, jugendlicher Schweiß und feuchte Erde. Doch am stärksten nahm er das zarte Herbstlicht wahr, das alles warm leuchten und funkeln ließ: die Tautropfen auf den Rosen am Hauptweg, die Fensterscheiben, die silbrig gelben Blätter der alten Ulmen, deren Wipfel hinter dem Dach hervorragten…
Da begriff er, dass Jana gekommen war.
Sie war allein. Lässig an die Hofmauer neben dem schmiedeeisernen Tor gelehnt, stand sie da und blickte ihm entgegen. In ihrem Blick lag eine Zärtlichkeit, die Alex den Atem nahm. Im selben Moment meldete sich das Tattoo brutal zurück. Es war, als bohrten sich Tausende von Nadeln in seine Schulter und stachen noch einmal die komplizierten Linien des keltischen Knotens unter seiner Haut nach, mit dem David ihn gebrandmarkt hatte.
So würde es von nun an also immer sein. Ein unerträglicher seelischer Schmerz, wenn Jana nicht da war, und ein nicht weniger schrecklicher körperlicher Schmerz, wenn sie sich begegneten. Ein tolles Geschenk hatte David ihm da gemacht.
Langsam ging er auf sie zu, die
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