Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
gerade im Bett auf.
»Guten Morgen«, sagte sie lächelnd.
»Guten Morgen«, sagte Kaitlyn. Wie herrlich es war, mit einer Mitbewohnerin aufzuwachen. »Was ist das für ein Lärm?«
Anna reckte den Hals. »Keine Ahnung.«
»Ich sehe mal nach.« Kaitlyn stand auf und öffnete die Badezimmertür. Jetzt war das Rasseln lauter. Zusätzlich war ein sehr merkwürdiges Geräusch zu hören, das klang wie das Muhen einer Kuh.
Kurz entschlossen klopfte sie an die Tür, die vom Bad in Robs und Lewis’ Zimmer führte. Als Rob »Herein! « rief, öffnete sie die Tür und spähte ins Zimmer.
Rob saß aufrecht im Bett, sein unbändiges blondes Haar zerzaust wie eine Löwenmähne. Sein Oberkörper
war nackt, wie Kaitlyn leicht geschockt feststellte. Im anderen Bett war nur ein unförmiger Haufen Decken zu sehen, unter dem sich vermutlich Lewis verbarg.
Kaitlyn wurde plötzlich bewusst, dass sie nur ein knielanges Nachthemd trug. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, so loszumarschieren – bis sie mit der unbestreitbaren Tatsache konfrontiert war, dass hier auch Jungs wohnten.
Um sich abzulenken, sah sie sich verzweifelt nach der Quelle des merkwürdigen Geräusches um.
Es war eine Kuh. Eine Kuh aus weißem Porzellan mit einer Uhr im Bauch. Die Stimme, die aus diesem Bauch kam, rief mit einem ausgeprägten japanischen Akzent: »Auf- wachen! Verschlaf nicht dein Leben! Auf- wachen!«
Kaitlyn sah vom sprechenden Wecker zu Rob und wieder zurück. Rob lächelte sein leises, ansteckendes Lächeln – und plötzlich war alles gut.
»Der muss Lewis gehören«, kicherte Kait.
»Ist doch toll, oder?«, sagte eine gedämpfte Stimme unter dem Deckenberg. »Ich habe ihn im Scherzartikelladen gefunden.«
»Das also habe ich von meinen Mitbewohnern zu erwarten«, sagte Kait. »Ein Muhen am Morgen.« Sie und Rob lachten herzlich. Dann zog sie sich zurück.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, betrachtete
sie sich im Badezimmerspiegel. Normalerweise verbrachte sie nicht viel Zeit vor dem Spiegel, aber jetzt …
Ihr Haar war zerzaust und ringelte sich wild bis zur Taille. Rote Locken fielen ihr in die Stirn. Die Augen mit den seltsamen Ringen um die Iris blickten ihr sarkastisch entgegen.
Du machst dir also nichts aus Jungs?, schienen sie zu fragen. Warum zerbrichst du dir dann den Kopf darüber, ob du dir das nächste Mal besser die Haare kämmen solltest, ehe du bei den beiden reinplatzt?
Kaitlyn öffnete die Duschkabine, und in diesem Moment fiel ihr Marisols nächtlicher Besuch wieder ein.
»Nimm dich in Acht, oder hau ab. Das hier ist völlig anders, als ihr denkt.«
Oh Gott, war das wirklich passiert? Es kam ihr vor wie ein Traum. Kaitlyn stand wie gelähmt in der Mitte des Zimmers, und die glückliche morgendliche Stimmung war dahin. War Marisol verrückt? Es musste wohl so sein, wenn sie sich mitten in der Nacht bei anderen ins Zimmer schlich.
Ich muss mit jemandem darüber reden, dachte Kait. Doch sie wusste nicht, mit wem. Wenn sie es Joyce erzählte, würde Marisol womöglich Ärger bekommen. Sie war doch keine Petze. Und überhaupt, vielleicht war ja alles nur ein Traum gewesen?
An diesem sonnigen, geschäftigen Morgen, inmitten der Geräusche von Menschen, die aufstanden, sich wuschen, lachten und redeten, war es schwer vorstellbar, dass Marisols Besuch tatsächlich stattgefunden hatte. Dass es im Institut nicht mit rechten Dingen zugehen sollte.
Marisol war in der Küche, als Kait zum Frühstück herunterkam, doch Kaitlyns fragendem Blick begegnete sie mit mürrischer Ignoranz. Als Kait höflich sagte: »Marisol, kann ich mal mit dir sprechen?«, runzelte sie nur die Stirn, ohne auch nur von der Orangenpresse, mit der sie gerade Saft zubereitete, aufzusehen.
»Ich habe zu tun.«
»Aber es … es geht um letzte Nacht.«
Sie erwartete schon, dass Marisol sagen würde: »Was redest du da für einen Quatsch?« Dann wäre es vielleicht wirklich nur ein Traum gewesen. Doch stattdessen warf sich Marisol nur die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Oh, das. Hast du das nicht kapiert? Das war doch nur Spaß.«
»Spaß?«
»Natürlich, du Dussel«, sagte Marisol grob. »Hast du das etwa nicht gemerkt? Ihr übersinnlichen Superhelden seid ja so was von arrogant.«
Kaitlyn war jetzt auf 180.
»Zumindest schleichen wir nicht nachts durchs
Haus und führen uns auf wie die Verrückten!«, fauchte sie. »Das nächste Mal nimmst du dich besser in Acht.«
Marisol grinste gequält. »Oder was?«
»Oder …«
In
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