Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
»Was denn?«, doch Robs verschlossene Miene ließ erkennen, dass sie keine Antwort erhalten würde.
»Das war vor über drei Jahren«, sagte Rob. »Er ist gleich nach dem Zwischenfall aus dem Zentrum geflohen. Ich habe gehört, dass er von einem Bundesstaat in den anderen gegangen ist und überall einen Haufen Ärger bekommen hat. Einen Haufen Ärger gemacht hat, genau gesagt.«
»Oh, fantastisch«, sagte Lewis. »Und wir müssen ein Jahr lang mit diesen Typ zusammenwohnen?«
Anna sah Rob eindringlich an. »Was ist mit dir? Hat das Zentrum dir geholfen?«
»Klar. Sie haben mir geholfen herauszufinden, was ich da eigentlich mache.«
»Und was machst du da so?«, warf Kaitlyn ein und sah bedeutungsvoll von ihm zu ihrem Knie.
»Heilen, glaube ich«, erwiderte er schlicht. »Manche
nennen es ›therapeutische Berührung‹, andere ›Kanalisieren von Energie‹. Ich versuche es einzusetzen, um anderen zu helfen.«
Beim Blick in seine ruhigen goldenen Augen war Kaitlyn merkwürdig beschämt. »Keine Frage«, murmelte sie. Näher kam sie an ein »Danke« nicht heran. Sie wusste nicht, warum, aber sie wollte nicht, dass die anderen erfuhren, was zwischen ihr und Rob vorgefallen war. Die ganze Sache hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht.
»Das tun wir ja alle«, sagte Rob. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Es wirkte ansteckend, unwiderstehlich.
»Na ja, wir versuchen es zumindest«, sagte Anna. Lewis hatte nur die Augen weit aufgerissen und sagte nichts. Kait vermutete, dass er sich, wie sie selbst auch, noch nicht besonders intensiv damit befasst hatte, wie er anderen Menschen mit seiner Gabe helfen konnte.
»Also«, sagte Lewis und räusperte sich, »ich will euch ja nur ungern unterbrechen, aber darf ich mir jetzt ein Zimmer aussuchen? Denn ich hätte ganz gern … äh … das da.«
Rob warf einen Blick in das Zimmer mit dem Erker, auf das Lewis gezeigt hatte, und ging dann durch den Flur zu den anderen beiden Räumen. Dann drehte er sich um und warf Lewis einen Blick zu, der besagte: »Das ist nicht dein Ernst!«
Lewis ließ die Schultern hängen. »Das ist das einzige mit Kabelanschluss. Ich brauche doch mein MTV. Und meinen Computer und meine Stereoanlage …«
»Es gibt nur eine faire Lösung«, sagte Rob. »Wir machen das Zimmer zum Gemeinschaftsraum. Dann können wir alle fernsehen. Unten ist kein Fernseher.«
»Aber was wird aus mir?«, wollte Lewis wissen.
»Wir ziehen jeweils zu zweit in die kleinen Zimmer«, sagte Rob knapp.
Kaitlyn und Anna sahen einander an und lächelten. Kaitlyn machte es nichts aus, mit Anna das Zimmer zu teilen – sie war sogar froh darüber. Das war fast so, als hätte sie eine Schwester.
Lewis stöhnte. »Aber was ist mit meiner Stereoanlage und dem ganzen Kram? Die passen doch in so ein kleines Zimmer gar nicht rein, ganz zu schweigen, wenn noch zwei Betten drin stehen.«
»Auch gut«, sagte Rob unnachgiebig. »Dann stellst du sie einfach in den Gemeinschaftsraum. So können wir alle Musik hören. Komm schon, wir möblieren unsere Zimmer.«
Gabriel schritt zunächst misstrauisch und auf leisen Sohlen das Zimmer ab. Er untersuchte jeden Winkel.
Er sah ins Badezimmer und sogar in den Wandschrank. Das Zimmer war geräumig und luxuriös, und
der Balkon bot ihm einen schnellen Fluchtweg, falls eine Flucht nötig werden sollte.
Es gefiel ihm.
Er ließ sich auf das Doppelbett fallen und überlegte, ob ihm hier noch mehr gefiel als nur das Zimmer.
Da war natürlich das Mädchen. Die mit den Hexenaugen und den feuerroten Haaren. Sie könnte ein interessanter Zeitvertreib werden.
Doch die Sache hatte einen unangenehmen Beigeschmack. Unwillkürlich war Gabriel wieder auf den Füßen und schritt im Zimmer auf und ab.
Er durfte nicht zulassen, dass sie mehr als ein Zeitvertreib wurde. Diese Kategorie Mädchen konnte sich als zu interessant erweisen, konnte ihn in Versuchung führen, sich ernsthaft auf sie einzulassen …
Und das durfte nie wieder geschehen.
Niemals. Denn …
Gabriel wischte den Gedanken beiseite. Abgesehen von dem Mädchen gab es hier nicht viel Positives, dafür aber ziemlich viel Nerviges. Kessler, die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit, der Hausarrest, die dämlichen Versuche, die geplant waren. Kessler.
Kessler konnte er loswerden, wenn er wollte. Dauerhaft. Aber dann wäre er wieder auf der Flucht, und wenn sie ihn schnappten, würden sie ihn einsperren, bis er 25 war. Das war die Sache nicht wert – noch
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