Visionen (Kobaltblaue Träume) (German Edition)
heben sich meine Arme … legen sich meine Hände um meinen Kopf, wie um ihn vor dem Platzen zu bewahren … verzerrt sich mein Mund zu einem stummen O ...
Und dann - ohne, dass ich es verhindern kann - entringt sich meiner Kehle das, was Munchs Bild den Namen gab … ein Schrei!
Laut und schrill gellt er durch mein Turmzimmer … und nicht nur durch meines …
Die Tür fliegt auf und Vic stürmt herein.
„Oh Gott, Kleines“, ruft er aus.
Er fällt neben mir auf die Knie und nimmt mich in die Arme, beginnt mich hin und her zu wiegen wie ein Baby.
Mein Gesicht presst er fest an seine Brust und erstickt somit effektiv mein Schreien, das irgendwann – ich schätze, es sind Stunden vergangen – in hilfloses Wimmern übergeht.
Ohne eine Frage zu stellen, hebt Vic mich hoch und verlässt mit mir bebendem, winselndem Häufchen Elend das Zimmer.
Er trägt mich über den Flur in seinen eigenen Raum, wo er sich, ohne mich loszulassen, gemeinsam mit mir auf sein Bett legt.
Noch immer umschließen mich die kräftigen Arme meines Bruders.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann werde ich ruhiger.
Vielleicht habe ich auch einfach keine Kraft mehr, um zu weinen.
Meine Augen brennen, meine Kehle fühlt sich an wie ein Klumpen rohes Fleisch.
Vorsichtig versucht Vic, mich ein Stück von sich zu schieben, um mich ansehen zu können.
Keine Chance!
Ich klammere mich mit dem bisschen Kraft, das noch in mir steckt, an ihn … zu wenig, um Vic wirklich etwas entgegensetzen zu können.
„ Geht's wieder?“
Sogar zum Kopfschütteln fehlt mir der Mumm.
„N … nein“, krächze ich, „es … wird … niemals mehr … geh'n“, stammele ich.
Vic löst sich sanft aus meiner Umklammerung und ich wimmere.
„Hey“, sagt er, „ich möchte dir nur ein Glas Wasser holen.“
„Bin nicht durstig“, schluchze ich und versuche erneut, ihn festzuhalten.
„ Mag sein, doch dein Mund ist trocken wie die Wüste Gobi“, konstatiert er, „und ich kann mir gut vorstellen, dass dein Hals weh tut.“
„ Und das ist … auch gut … so“, flenne ich, „die Halsschmerzen … lenken mich … wenigstens von den Herzschmerzen ab ...“
„ Außerdem hast du eine riesige Beule.“
„Mir doch egal.“
Vic lässt sich von meiner Starrköpfigkeit nicht beirren.
Ich höre, wie im Badezimmer das Wasser rauscht, dann ein Klappern und Klirren, und schiele unter meinen Ponyfransen durch, als mein Bruder zurückkehrt.
Ohne Vorwarnung klatscht er mir einen eiskalten Waschlappen an die Stirn.
„Autsch!“
Scheiße, tut das weh!
… aber ich heiße auch diesen Schmerz herzlich willkommen.
Ich hab's ja sowas von verdient!
„Na, endlich mal eine gescheite Reaktion“, kommentiert Vic trocken und hält mir eine Flasche Wasser hin.
„ Hier … trink!“
Der Versuch, einen giftigen Blick aufzusetzen, scheitert kläglich - was nur bedingt an dem Waschlappen liegt, der mir quer im Gesicht hängt.
Ergeben greife ich nach der Flasche, setze sie an und trinke – zunächst in kleinen Schlucken, dann in immer größeren.
Gott, tut das gut.
Das angenehm kühle Wasser erstickt die Flammen, die meine Kehle in Brand gesetzt haben.
„ Besser?“, fragt Vic und setzt sich wieder neben mich aufs Bett.
Ich nicke und presse mich sofort wieder an ihn, brauche die körperliche Nähe gerade jetzt so nötig, wie die Luft zum Atmen.
Unbewusst weiß ich, dass nur die Präsenz eines lebenden, menschlichen Körpers (und ich bin froh über den Umstand, dass es der meines Bruders ist) mich davon abhält, in ein tiefes Loch zu fallen.
Denn zum in Löcher fallen hab' ich keine Zeit.
Mein Bruder weiß das auch, denn er legt den Arm um mich und zieht mich näher zu sicher heran.
Dann nimmt er mir die Flasche aus der Hand und trinkt selbst einen Schluck.
„Und jetzt möchte ich wissen, was los ist“, sagt er bestimmt, „und zwar alles!“
Bebend hole ich Luft.
„Das … das kann ich … nicht“, flüstere ich tonlos.
„ Oh doch, Schwesterchen, das kannst du und das wirst du auch! Glaubst du etwa, ich habe nicht bemerkt, dass seit Phils und Selenas Hochzeit etwas nicht stimmt?“
Nicht wirklich!
Vic erwartet keine Antwort auf seine ohnehin rhetorische Frage und fährt unbarmherzig fort.
„Du kannst mir nichts weismachen, Kleines! Und auch Kay nicht!“
Bei der Erwähnung seines Namens, fließen meine Augen erneut über. Und dabei dachte ich, meine inneren Salzseen seien ausgetrocknet.
„ Also, was ist los?
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