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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wichtigsten war mir, dass ich von hier oben die Stadt selbst besonders gut im Blick-feld hatte, direkt unter mir; sie hatte die Form eines gro-
    ßen Auges - ein Oval mit spitz zulaufenden Enden -, und hier und da brannten verstreut einzelne Fackeln; auch einige Fenster waren schwach erleuchtet, eine Laterne bewegte sich langsam vorwärts, als jemand gemächlich eine der Hauptstraßen hinabschritt. Aber ich hatte diese Laterne kaum erspäht, da verlöschte sie auch schon.
    Nun schienen die Straßen vollkommen verlassen. Dann ging auch das Licht hinter den Fenstern aus, und schon bald konnte ich nicht einmal mehr vier Fackeln brennen sehen. Diese Dunkelheit hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Das offene Land draußen versank unter dem Himmelszelt in tiefdunklem Blau, und ich konnte sehen, wo der Wald sich in die bestellten Felder einschnitt und hier und da weiter auf die Höhen emporkroch, wo sich die Hügel einer über den anderen türmten oder steil in die in tiefstes Schwarz getauchten Täler abfielen.
    Ich hörte förmlich, wie vollständig leer dieser Turm war.

    Nichts rührte sich mehr, nicht einmal die Vögel. Ich war ganz allein. Ich hätte noch den leichtesten Fußtritt auf den Stufen vernommen. Niemand wusste, dass ich hier war. Alles schlief. Hier oben war ich in Sicherheit. Und ich konnte Wache halten.
    Mir war zu elend, als dass ich mich geängstigt hätte, und offen gesagt, war ich darauf vorbereitet, Ursula hier an diesem Ort entgegenzutreten, zog ihn sogar den ein-engenden Zimmern des Gasthofes vor, und ich fürchtete nichts und niemanden, als ich nun meine Gebete sprach und gewohnheitsmäßig die Hand an mein Schwert legte.
    Was erwartete ich in dieser schlafenden Stadt zu entdecken? Alles, was auch immer dort passierte.
    Und was konnte das meiner Ansicht nach sein? Ich hätte es nicht zu sagen vermocht. Aber als ich nun in diesem Gelass meine Kreise zog, immer wieder den Blick über die spärlichen, verstreuten Lichtpunkte unten und über die unförmige Masse der abfallenden Wälle gleiten ließ, die sich unter dem glimmenden Abendhimmel erstreckten, da erschien mir diese Stadt Ekel erregend, sie quoll von Täuschungen und Hexenwerk über und zahlte Tribut an den Teufel.
    »Ihr denkt, ich weiß nicht, wohin eure ungewollten Kinder kommen?«, murmelte ich wütend. »Ihr glaubt, dass Menschen, die an der Pest daniederliegen, in euren Nachbar-städten mit offenen Armen aufgenommen werden?«
    Ich erschrak vor dem Echo meiner leisen Worte, das von den kalten Mauern widerhallte.
    »Aber was macht ihr mit ihnen, Ursula? Was hättest du mit meinen Geschwistern gemacht?«
    Meine Grübelei zeugte vielleicht von Wahnsinn oder hät-te zumindest manchem so geschienen. Aber ich machte eine Erfahrung: Racheschwüre lenken vom Schmerz ab.
    Rache ist verlockend, eine gewaltige, zähflüssige Verlockung, selbst wenn sie aussichtslos ist. Ein Hieb mit diesem Schwert, und ihr Kopf ist abgetrennt, dachte ich, und ich kann ihn aus diesem Fenster schleudern, und dann, was ist sie dann noch? Nur ein Dämon, der alle irdische Macht verloren hat? Hin und wieder zog ich das Schwert halb aus der Scheide, schob es wieder zurück oder zück-te meinen längsten Dolch und klatschte die flache Klinge in meine Handfläche, aber ich unterbrach meine Schritte nicht.
    Während einer meiner eintönigen Runden entdeckte ich plötzlich durch Zufall auf einem entfernt liegenden Hügel
    - ich wusste nicht, in welcher Richtung, wenn es auch nicht die war, aus der ich gekommen war - eine außergewöhnliche Lichtfülle, die durch das Netzwerk der dunklen Bäume blitzte. Zuerst dachte ich, es könnte ein Brand sein, weil es so hell war, doch als ich die Augen zusammenkniff und angestrengt auf den Punkt schaute, merkte ich, dass es das auf keinen Fall sein konnte. Kein lodernder Feuerschein spiegelte sich auf den wenigen vorhandenen Wolken, und das Licht, so weit gestreut es auch war, hielt sich in einem festen Rahmen, als wenn es von einer riesigen Versammlung ausstrahlte, die sich, mit unzähligen Kerzen versehen, zusammengefunden hatte.
    Ganz beständig, wenn auch in an- und abschwellendem Pulsieren, glühte diese grelle Lichtorgie!
    Eiseskälte kroch mir bei diesem Anblick in die Knochen.
    Das war eine Wohnstatt! Ich beugte mich über die Fen-sterbrüstung. Nun konnte ich den verschachtelten, aus-gedehnten Umriss erkennen! Diese einzelne, grandios beleuchtete Burg, die so abseits stand, hob sich von der Landschaft ringsum deutlich ab,

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