Vögelfrei
am Strand vor zwanzig Jahren, ein verliebter Grashüpfer auf einer schaukelnden Tulpe, kurz bevor es regnet, verschüttete violette Tinte, das Blitzen einer frisch gebrannten CD, die man lange schon haben wollte. Ich wusste das so genau, weil auch ich das alles einmal gehört hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich mir so sehr wünschte, zumindest die verschüttete lila Tinte wäre mir geblieben, nur mir, wenigstens das.
Ich zog Leo am Ärmel. »Komm mit, Ernie.« Ich zeigte auf eine kleine Rotlichtbar gegenüber dem Parkplatz. »Da haben wir mehr Ruhe.« Leo wurde ganz aufgeregt.
»Kennst du sie? Hast du sie gesehen? Weißt du, wo sie ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Der Mann«, sagte ich und wünschte mir, das alles wäre ein Alptraum oder nie passiert, »ist mein Mann.«
Außerdem wünschte ich mir, ich hätte die Einladung der männlichen Geisha angenommen und würde jetzt plaudernd und lachend mit dieser Sophia zwischen ihren Musketieren sitzen und mich schön und begehrt fühlen.
Die Bar war schummrig und ein bisschen klebrig, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn mich ein grüngesichtiger Gnom im Trench angewispert hätte, ob ich vielleicht ein Q von ihm kaufen wolle, so plüschig, pelzig, filzig und flauschig war alles. Aber fast leer, und darauf kam es an. Wir schoben uns auf zwei Barhocker, die etwas abseits standen. Ich sah mir das Bild noch einmal an. Madhuri war wirklich atemberaubend; eine Inderin mit glänzendem schwarzen Haar, das ihr bis über die Hüften fiel, mit einer Figur wie eine dieser Tänzerinnen auf uralten Tempelreliefs.
»Wie ist sie denn so?«, wollte ich wissen.
»Schwer zu beschreiben«, sagte er nur und starrte finster vor sich hin.
»Warte kurz«, sagte ich und verlangte seinen Ausweis.
Er zögerte, und ich wurde ungeduldig: »Mach schon, ich muss mich ein bisschen absichern. Ich will wissen, mit wem ich’s hier zu tun habe, immerhin hast du gerade ein Auto geknackt.«
Er gab nach, fischte seine Plastikkarte hervor, und ich ging nach hinten durch zu den Toiletten, um mit meinem Mann zu telefonieren. Er fragte mich nicht, wo ich sei oder was ich vorhätte, denn dazu hatte er kein Recht, und das wusste er genau. Obwohl er sich so verhielt, wie wir es abgesprochen hatten, konnte ich es kaum ertragen, seine Stimme zu hören. Ich musste mir Mühe geben, ihn nicht anzuschreien. Schließlich fragte ich ihn so sachlich, wie ich es nur fertigbrachte, nach Madhuri.
Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich mich wieder so weit gefangen hatte, dass ich an die Theke zurückkehren konnte.
»Hast du was eingeworfen?«, fragte Leo sofort, als er meinen wohl ziemlich verstrahlten Gesichtsausdruck sah, und strich mir über den Rücken.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wo deine Ex ist.«
Ich erzählte ihm, dass sie nach der Affäre mit meinem Mann weggegangen war. »Sie hat ein Angebot bekommen, in Greenwich Village zu arbeiten, und ist vor etwa einem Monat abgereist.«
»New York? Was will sie denn da?«
»Es ging wohl um irgendein Filmangebot, Genaueres weiß ich nicht.«
Leo sank auf seinem Barhocker zusammen. Jetzt klopfte ich ihm den Rücken. »Ist ja gut«, sagte ich. »Wenn es dich wirklich so sehr interessiert, kann ich es für dich herausfinden. Mich hält hier gerade sowieso nichts.«
»Du willst nach New York? Aber du kennst mich doch gerade erst ein paar Minuten. Wieso willst du dann für mich nach New York? Einfach so? Und kannst du dir das leisten?«
»Nicht für dich«, stellte ich fest. Von dem Konto meines Mannes, zu dem ich unbegrenzten Zugang hatte, brauchte er nichts zu wissen. »Ich hab dort eine Freundin, und ich brauche dringend Abstand. Also besuche ich sie und werd bei der Gelegenheit mal sehen, ob ich deine Madhuri finde. Mich interessiert ja auch, mit wem mein Mann mich betrogen hat. Aber erst«, ich beugte mich vor, küsste ihn und ließ meine Zunge ohne Umschweife in seinen Mund gleiten, der frisch und männlich schmeckte, »sollten wir uns mal um die Anwesenden kümmern, bevor wir die Leichen ausgraben.«
Gut, es war ein bisschen Verzweiflung dabei, Rachelust sicher auch. Und womöglich versprühten die Leute hier in der klebrigen Bar außer diesem nicht minder klebrigen Raumspray auch noch Testosteron, so wie in der Schweinemast und in Fastfood-Restaurants Aromen versprüht werden, um den Riesenhunger zu wecken. Aber Leo war ein gut aussehender Junge. Ein bisschen ähnelte er dem Technoboy auf der Haremsparty im Séparée. Als
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