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Vögelfrei

Titel: Vögelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Andresky
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dreißig funktionieren die grauen Zellen nicht mehr so gut. Ich weiß nur, dass du eine Weile in diesem Hotel gewohnt hast,
und dann tauchtest du erst wieder im Winter auf. Was hast du in der Zwischenzeit gemacht?«
    »Ich war bei Leo«, sage ich, »und dann in New York.«
    Gemma lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und streicht sich mit einer hennabemalten Hand über den kahlen Kopf. »Leo also. Dann möchte ich das jetzt hören.«
    Leo und ich fangen gleichzeitig an breit zu grinsen, und ich hole Luft, um unsere Geschichte zu erzählen. Gemma zwinkert mir zu und hebt unmerklich ihr Glas, ein heimlicher, nur für uns beide gedachter Toast.

3
    LEO
    ZWISCHENGANG:
     
    Raukesuppe mit pochiertem Ei
     
     
    Zuerst hielt ich ihn für einen Autoknacker. Oder für einen Stalker. Oder für beides. Dann sah ich, dass auf seinem T-Shirt Signor Rossi aufgedruckt war, der ewig das Glück suchende, durch psychedelische Muster wirbelnde Signor Rossi aus der Zeichentrickserie, der seinen viel vernünftigeren Hund Gastone regelmäßig zur Verzweiflung trieb.
    Der Autoknacker war bei näherem Hinsehen mit Markenfiguren zugepflastert wie ein Formel-1-Fahrer. Seine Armbanduhr hatte Asterix auf dem Ziffernblatt, Pokémons liefen über das T-Shirt, die Gürtelschnalle bestand aus dem Dschungelbuch -Bären, auf seinem Knie prangte ein Flicken mit der Maus und ihrem blauen Elefanten, und auf seinen Turnschuhen lachten kleine Zeichentrick-Heidis. Er war groß, zwei Köpfe größer als ich mit Absätzen, und etwas jünger als ich; vielleicht so um die dreißig.
    Wir befanden uns auf dem Parkplatz vor einer großen Diskothek, in der eine entfernte Bekannte ihren Geburtstag
feierte. Der Lichtkegel einer Straßenlaterne erfasste uns wie ein Bühnenspot. Leo, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass er Leo hieß, fuhrwerkte mit einem Kleiderbügel aus Draht an einem winzigen Auto herum, das ebenfalls direkt aus Toontown zu stammen schien - so eins, bei dem auf der Rückbank immer drei Neffen mit Schnabel und Bürzel sitzen sollten -, und fummelte an der Fensterscheibe, die ein Stückchen offen stand. Er fluchte verbissen und schien kurz vor einem Wutausbruch zu stehen. Er sah aus wie ein gerade erwachsen gewordener Junge aus den Peanuts -Comics, und ich fragte mich schon, wieso mir bei diesem Autoknacker ständig das Kinderfernsehen einfiel. Meine Gedanken wanderten von Kindern zu Eltern zu Paaren, und prompt war ich wieder schlecht gelaunt.
    Auf der Feier, die ich gerade fluchtartig verlassen hatte, gab es nur diese spezielle Sorte siamesischer, an Hüfte und Hirn zusammengewachsener Wir-Paare. »Wir finden diesen Film gut, aber jetzt müssen wir mal Pipi, und da werden wir darauf achten, dass wir hinterher sorgfältig abschütteln.« Nicht auszuhalten. Außerdem war ich neidisch. Denn in einem Séparée, das besonderen Gästen vorbehalten war, und in das ich mich verirrt hatte, weil ich die Garderobe suchte, hatte ich eine Frau gesehen. Und die besaß offenbar alles, was mir fehlte: Männer, Liebe, Glück, Harmonie, Abenteuer - gleich fünffach. Fünf Männer, die sie ständig umwarben.
    In diesem auf eine mondäne Weise altmodischen Raum, in dem Glasstäbe von der Decke hingen und der Boden mit einem dicken violetten Teppich ausgelegt war, saß diese Frau mit ihrem Harem in einer Gruppe erlesen
gekleideter Gäste. Ab und zu las man von ihr in den Klatschspalten der Zeitungen, aber so, live und in Farbe, bekam man sie und ihre Männer eher selten zu Gesicht.
    Sie saß in einem eleganten schwarzen Wickelkleid auf dem Schoß eines blonden Hünen, der ihr zärtlich über den Nacken strich und sich dabei angeregt mit einem jungen, muskulösen Südländer unterhielt. Ab und zu winkte sie einem Langhaarigen an einem DJ-Pult zu oder strich einem unverschämt jungen Mann im Technooutfit, der neben ihr auf den Zehenspitzen wippte, über den Hintern. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einem derartig jungen Mann so nahegekommen war - von dem grabschenden Masseur im letzten Urlaub, der sich davon ein Extratrinkgeld versprach, mal abgesehen. Die Frau lachte gerade schallend, als mich jemand mit sanfter, kehliger Stimme ansprach. Eine bildschöne Japanerin (oder ein Mann?) im Geishagewand verbeugte sich höflich vor mir.
    »Sind Sie eine Freundin von Sophia? Bitte kommen Sie herein.« Die Stimme war eindeutig die eines Mannes.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht, wirklich nicht. Ich hab mich nur

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