Vögelfrei
in der meine Freundin wohnte.
Der pakistanische Doorman gab mir einen Umschlag mit dem Schlüssel und drückte im Fahrstuhl auf den Knopf zur siebten Etage. Oben im Apartment fand ich ein Kärtchen, auf dem nur stand:
Du Liebe!
musste ganz plötzlich zu einer Konferenz (Vertretung für kranke Kollegin), fühl dich wie zu Hause!
Gruß und Kuss, M.
PS: Was im Flur so müffelt, ist die Müllkammer neben dem Lift.
Sie hatte Recht, es roch ähnlich wie der Linsenmatsch im Flugzeug. Vielleicht würde es besser werden, wenn es draußen langsam kälter wurde. Wonach es aber nicht aussah. Obwohl schon Herbst war, lag draußen eine brütende Hitze wie ein nasses Handtuch auf der Stadt. Ich freute mich darüber, denn mir ist immer kalt, und um mich bis in die Knochen aufzuwärmen, brauche ich schon mehr als nur einen Sonnenstrahl. Ich ließ meinen Koffer unausgepackt, wanderte durch das Apartment, was schnell erledigt war, da es außer dem großen Wohnraum nur noch eine kleine Schlafkammer gab, zog mich
nackt aus, wickelte mich in meine Decke aus dem Flugzeug, fiel aufs Bett und schlief sofort ein.
Der Lärm drang bis in meine Träume. Ein gigantischer Bienenkorb summte vor den Fenstern. Die Geräusche in dieser Stadt waren dicht wie Smog. Zum Summen und Brummen gesellte sich das Heulen des Windes, der um den 30-stöckigen Turm pfiff und mit seinem Dr.-Schiwago-Sound eher nach Wolfsrudel und Sibirien klang und so gar nicht zu den hochsommerlichen Temperaturen passte. Und über allem lag das Tuten, Hupen und Dröhnen einer riesigen Daddelmaschine: hysterische Sirenen, dampferähnliches Blöken, Klingeltöne der übelsten Sorte im XXL-Format. Ich merkte, wie ich noch im Halbschlaf den Widerstand aufgab, mich ganz weich machte wie ein löchriger Naturschwamm und den Lärm in mich hinein- und durch mich hindurchfließen ließ. Möglichst wenig Gegenwehr leisten, ihn einfach akzeptieren, nicht länger als Schmerz oder Belästigung wahrnehmen, sondern als Grundgeräusch, das einen trägt wie eine Welle. Es funktionierte. Ich entspannte mich endlich und sank sieben Etagen tiefer, bis in die Waschküche, die Kanalisation, den Fels, auf dem New York gebaut ist, und noch tiefer - und verschwand schließlich völlig.
Diese Art eines komaähnlichen Schlafs hat sich nie geändert, obwohl ich über drei Monate in New York war. Ich kann mich an kaum einen Traum in dieser Stadt erinnern. Mein Gehirn kam einfach nicht nach bei dieser Flut von Eindrücken, die es den ganzen Tag zu verarbeiten hatte. Abends, sobald ich die Augen schloss, gab es regelmäßig einen Festplattencrash; dann stand nur noch Error hinter meiner Stirn, und nichts bewegte sich mehr.
Mittags war ich gelandet, bis zum Abend des nächsten Tages brauchte ich, um wieder zu Bewusstsein zu kommen. Mein knurrender Magen weckte mich, ich duschte, zog mich an und machte mich auf den Weg nach unten ins Labyrinth von Babylon, in den Moloch, in den großen Flipperautomaten, der mich wie eine kleine Kugel blinkend und lautstark hin und her schubsen würde, bis ich angeschrammt und matt wieder ins Magazin rollte.
Ich lief die Bleecker Street entlang und kaufte in einem kleinen Coffeeshop Milchkaffee, dazu ein Sandwich und das obligatorische Muffin, setzte mich auf eine Bank vor dem Laden und schlang alle Köstlichkeiten in mich hinein. Ich beobachtete die vorbeihastenden New Yorkerinnen und wunderte mich, wie unglaublich dünn sie waren. Ich hatte mich noch nie ernsthaft um meine Figur gekümmert, weil ich fand, solange sich im Liegen der Stoff meines Slips über beiden Hüftknochen spannte wie ein Beduinenzelt, war alles in Ordnung. Aber was mir hier über den Weg lief, waren Laufstegmaße. Ich hatte selten zuvor dichteres Haar gesehen, ebenmäßigere Gesichter oder perfektere Proportionen. Nur die zahlreichen Joggerinnen trugen Freizeitkleidung, alle anderen staksten auf Stilettos und im Business-Outfit durch die sengende Hitze. Ich versteckte meine nackten Füße in den Flipflops unter der Bank und kaute schon mit mehr schlechtem Gewissen als Genuss an einem Brownie mit Erdnussbutterfüllung. Gerade schwebte eine Gruppe bildschöner Asiatinnen vorbei, als ich sie sah: zwei ältere Frauen in Saris.
Das schwarze Haar zu dicken Zöpfen geflochten und mit bunten Tüchern bedeckt, schleppten sie gemeinsam
eine schwere Tasche mit Einkäufen. Natürlich gab es in New York Hunderttausende indische Familien, und es konnte gut sein, dass keine von ihnen Madhuri kannte, aber
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