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Vögelfrei

Titel: Vögelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Andresky
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wie du.«
    Ich zog eine Augenbraue hoch, doch er ließ sich nicht weiter dazu aus. »Etwas sehr Persönliches, aber es hat nichts mit Liebe zu tun.« Ich beschloss, ihn nicht weiter auszufragen. Er würde es mir schon erzählen.
    »Wo kann ich sie finden?«
    Er machte eine weite Geste, die das ganze Lokal, die Straße, die Stadt zu umfassen schien. »Lass uns in den Tanzstudios anfangen«, sagte er. Draußen nahm er meine Hand, zog sie an seine Lippen, küsste sie allerdings nicht, sondern betrachtete sie nur aus der Nähe und hielt sie sich kurz an die Wange. »Was für eine helle Haut du hast, und so weich.« Ich lachte nervös und winkte ein Taxi heran.
    Samir führte mich in ein Tanzstudio im Village, direkt neben einem Geschäft, das außer Straußeneiern, präparierten Schlangen und Schmetterlingen auch aufgespießte Spinnen und Knochen in jeder Größe verkaufte. Im Schaufenster stand ein bärengroßes Skelett, umgeben von kleinen Schädeln und merkwürdigen Tieren, ein Skorpion mit drei Schwänzen, das Skelett einer zweiköpfigen Katze, ein ausgestopfter Biber mit Entenfüßen; dazwischen Felle, Federn und das gedrechselte Horn eines Einhorns.
    Im Studio bewegte sich ein Dutzend junger Frauen in bunten Gewändern zu einer schrillen, sehr rhythmischen Musik. Ich staunte wieder einmal, wie viele bildhübsche indische Frauen es gab, und bewunderte ihre Anmut. Jede von ihnen war aufwendig geschminkt und frisiert. Der Schmuck an Hand- und Fußgelenken, Hals und Ohren klimperte und schepperte im Takt der Musik. Die Trainerin begrüßte uns, indem sie ihre hennageschmückten
Hände vor dem Gesicht aneinanderlegte. Während Samir mit ihr sprach und ihr das Foto zeigte, sah ich mir die Mädchen an. Madhuri war nicht dabei.
    Auf der Treppe fragte ich ihn: »Wieso kennst du Madhuris Nachnamen eigentlich nicht?« Er erklärte mir, er habe ein furchtbar schlechtes Gedächtnis, und sie sei ja auch keine besonders interessante Frau.
    Das fand ich merkwürdig, aber vielleicht war das ähnlich wie bei Leo, der gesagt hatte, Madhuri hinterlasse keine Spuren. Wir fuhren im Taxi den Broadway hinunter, und Samir führte mich in die Wartehalle zur Staten Island Ferry.
    »Da finden wir sie zwar bestimmt nicht«, sagte er, »aber du warst nicht in New York, wenn du nicht auf der Fähre warst.«
    Für eine Weile vergaß ich Madhuri und ließ mich wieder völlig gefangennehmen von der Skyline, die mit der Sonne auf dem Wasser um die Wette glitzerte. Wir standen an der Reling, ich weit vornübergebeugt vor Begeisterung und Gier, und Samir dicht hinter mir.
    »Heute zeig ich dir erst mal die Stadt«, kündigte er an und legte von hinten die Arme um mich, was ich geschehen ließ. »Heute Abend telefoniere ich ein bisschen herum, und morgen können wir ganz gezielt nach unserer Madhuri suchen.«
    Ich drehte mich zu ihm um und nickte. Wir sahen uns lange an, und ich überlegte, wie es wohl wäre, diesen Mann auf seine vollen weichen Lippen zu küssen. Doch er unternahm nichts, und so blieben wir eng aneinandergeschmiegt stehen, während wir in einiger Entfernung an der kleinen grünlichen Freiheitsstatue vorbeizogen,
bis die Fähre anlegte und wir einmal durch das ganze Terminal laufen mussten, um dieselbe Fähre wieder zurück nach Manhattan zu nehmen. Den Rest des Tages sprachen wir nicht mehr über Madhuri, aber sie war bei uns wie ein Geist, und ich fragte mich, was Samir vor mir verbarg, denn dass er etwas verschwieg und dass es etwas mit Madhuri zu tun hatte, spürte ich.
    Wir fuhren hinauf aufs Rockefeller Center, wo wir von den Sturmböen fast hinuntergeweht wurden und uns gegen die Glasscheiben pressten, während unter uns die große Filmkulisse lag, mit Straßenschluchten wie in einem Comic oder einer expressionistischen Zeichnung, eine grau-silbrige, dreidimensionale »Tetris«-Version, berstend vor Energie, Bewegung und Geräuschen. Wir aßen Cheesecake in einem kleinen Diner und später einen Brownie in einem zweiten, und ich versuchte, mich an das völlig überchlorte Trinkwasser und die dreckigen Toiletten zu gewöhnen.
    Als Samir vorschlug, für den Abend einen Tisch in einem bekannten Fischrestaurant zu reservieren, streikte ich. »Ich kann unmöglich noch mehr essen.« Aber er ließ nicht locker.
    »New York besichtigt man nicht, man isst es. Das ist wie mit den Ameisen in Brasilien. Entweder du isst dich durch die Stadt, oder die Stadt frisst dich. Paris muss man riechen, London muss man erlaufen und Berlin lesen, aber

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