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Vögelfrei

Titel: Vögelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Andresky
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New York musst du essen. So ist das.«
    Damit ich wieder Appetit bekam, scheuchte er mich den Broadway entlang an den großen Musicalreklamen vorbei, zeigte mir den Spielzeugladen mit dem Riesenrad darin und einen anderen, der von oben bis unten
mit Schokodrops vollgestopft war. Erschöpft schlief ich ein, sobald wir im Bus saßen. Mein Kopf sackte auf Samirs Schulter, und er legte ritterlich den Arm um mich und ließ mich schlafen, bis wir das Village erreicht hatten. Er sah ein, dass das alles zu viel für mich war, brachte mich nach Hause und … küsste mich nicht .
    Wir standen in dem miefigen Flur, er hielt meine Hand, ich bedankte mich für den schönen Tag und sagte ihm, ich sei froh, nicht allein herumirren zu müssen, und dass ich es sehr genossen habe. Ich bemerkte, wie sein Blick mehrfach über mein dünnes Hemd und vor allem meinen tiefen Ausschnitt glitt. Ich war mir sicher, ich würde seine Erregung spüren, wenn ich mich jetzt fest an ihn presste, aber seine stolze, fast königliche Haltung hielt mich davon ab, den ersten Schritt zu machen. Ich fand diese ungewohnte Passivität interessant und aufregend. Sein Daumen strich leicht über meine Hand, und sein Blick war in meinen versunken. Jetzt würde er sich vorbeugen, mich in seine Arme ziehen und küssen. Doch er trat ganz plötzlich einen Schritt zurück, verbeugte sich fast formell, legte die Hände vor der Stirn zusammen, wünschte mir eine gute Nacht und ging. Seine Stimme war tief und rau.
    Ich zog mich aus und schlüpfte, umheult von den Wölfen vor den Fenstern des siebten Stocks, in mein Bett und dachte an seine breite Brust und die gepflegten Hände, die er beim Reden rhythmisch bewegte, als würde er tanzen.
     
    »Wir haben den ganzen Tag für uns«, begrüßte mich Samir am nächsten Morgen.

    Es war noch reichlich früh. Ich nahm mir verschlafen einen Bagel aus der Papiertüte, die er mitgebracht hatte, bestrich ihn mit Erdnussbutter und schüttete zwei Esslöffel Zucker in meinen Kaffee. Er habe, so erzählte er mir, einen Freund, der von einem Filmprojekt wisse, das halb in New York und halb in Indien gedreht werde. Zurzeit sei die Crew hier und treffe sich heute Abend im Bombay , einer Diskothek in Queens.
    »Vor Mitternacht ist da nichts los, also kann ich dir ganz in Ruhe die Stadt zeigen.«
    Sein Sightseeingprogramm begann am Strand von Coney Island, wo uns der Wind um die Nase pfiff und mir zum ersten Mal klar wurde, dass all diese Kirmesmonstren aus Stahl und Glas wirklich am Meer lagen. Neben der Promenade befand sich ein kleiner, heruntergekommener Vergnügungspark. Abblätternde Farbe, rostige Stangen, abgetakelte Fahrgeschäfte warteten auf bessere Zeiten, wie die, von denen die zahlreichen Fotos und Informationstafeln überall erzählten, auf denen man Menschenmassen in knielangen gestreiften Badeanzügen sah, Charleston tanzende Bubikopfmädchen und zugeknöpfte Damen mit Sonnenschirmen. Ich habe diesen morbiden Charme von verlassenen Seebädern immer geliebt, genau wie Geisterbahnen, in denen plötzlich das Licht angeht, oder den Blick aus den Kulissen auf eine unbespielte Bühne. Meistens finde ich die Wirklichkeit poetischer und geheimnisvoller als die Illusion. Wir spazierten durch den Sand und später, als die Hochhäuser nahe Little Odessa den Vergnügungspark ablösten, auf der Promenade. Einige Holzplanken waren herausgebrochen und gaben den Blick frei auf den düsteren, müllund
schuttübersäten Raum zwischen Steg und Boden, in dem Möwen herumpickten und wahrscheinlich auch Ratten zu finden waren. Samir hatte versprochen, mich heute in drei fremde Welten zu entführen.
    Little Odessa, das russische Viertel, sollte die erste sein - und ich war begeistert. Unter der Hochbahn erstreckten sich kleine Läden mit einem üppigen Angebot an Wodka, Kaviar, bunten Süßigkeiten oder Stickwaren. Matroschkas in Wollröcken verkauften klebriges Gebäck auf der Straße, und während Samir und ich Blinis probierten, hörten wir der russischen Musik zu, die aus dem Radio eines alten Mannes schallte.
    Direkt danach fuhr er mit mir in die New Utrecht Avenue, damit ich das orthodoxe jüdische Viertel kennenlernte. Auch hier konnte ich mich kaum sattsehen an den merkwürdigen Schläfenlocken der Männer und der altmodischen, hochgeschlossenen Eleganz der Frauen, die Kappen, Hüte oder Perücken trugen, um ihr Haar nicht zu zeigen. Vor einem Schaufenster mit spitzenbesetzten Brautkleidern wie aus einer anderen Zeit blieben wir lange

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