Vogel-Scheuche
dem Nichts heraus, außer den Nachtmähren. Selbst als Dämonin wagte sie es nicht, den Ereignishorizont des Nichts zu übe r queren, weil sie dann einer Nachtmähre eine halbe Seele abgeben mußte, damit diese sie wieder hinaus ins Freie trug – aber mehr als eine halbe Seele besaß sie nun einmal nicht. Und die würde sie bestimmt nicht au f geben.
Doch als sie sich dieser gefürchteten Grenzlinie näherte, zog die Marke sie nach unten. Nach unten – einem Kürbis entgegen. Das war ja bein a he ebenso schlimm! Normalerweise betraten die Leute das Kürbisreich, indem sie in ein Guckloch spähten; und wenn der Körper dabei auch draußen verblieb, blieb die Seele doch im Innern so lange eingesperrt, wie der Blickkontakt gehalten wurde – und der ließ sich nicht mehr aus eigener Kraft lösen. Wer also das Traumreich aufsuchen wollte, brauchte einen Freund, der zur vereinbarten Zeit den Blickkontakt unterbrach, indem er einen Finger auf das Guckloch legte und den Besucher solche r art befreite. Das funktionierte allerdings nicht bei Dämonen, die ja ke i nen dauerhaften physischen Körper besaßen; die betraten das Kürbi s reich mit ihrer gesamten Persönlichkeit und konnten es daher auch nicht mehr ohne Hilfe des Nachthengstes wieder verlassen. Und Trojan, das Pferd der Anderen Farbe, hatte für Dämonen nicht allzuviel übrig. Was sollte sie also tun?
Nun, immerhin war sie im Auftrag des Simurghs unterwegs, das würde sie dem Pferd eben mitteilen müssen. Auf jeden Fall dürfte es recht int e ressant werden, das Traumreich ein wenig zu erkunden.
»Dolph, es sieht so aus, als müßte ich in den Kürbis«, verkündete sie. »Vielleicht solltest du also lieber nach Hause zurückkehren, dann komme ich wieder, sobald ich hier fertig bin und dich wieder brauche.«
»Ich weiß ja nicht«, meinte er und nahm menschliche Gestalt an. »Der Kürbis ist ziemlich gefährlich, selbst für Dämonen. Vielleicht sollte ich dich doch besser begleiten.«
»Aber dann müßte dein Körper doch hier draußen zurückbleiben«, wandte sie ein. »Und aus eigener Kraft könntest du den Blickkontakt nicht mehr unterbrechen.«
»Das stimmt nicht so ganz«, widersprach er. »Ich habe nämlich einen Passierschein für den Kürbis. Der Hengst erlaubt mir jederzeit den B e such. Es stimmt, ich möchte meinen Körper nicht ungeschützt zurüc k lassen müssen.« Er blickte sich um. »Vielleicht könnte ich ja eine ges i cherte Gestalt annehmen, dann würde es gehen.«
»Eine gesicherte Gestalt?«
»Irgendein Wesen, das niemand behelligen wird. Beispielsweise eine Schlange.«
»Eine was?«
»Reptil, Schuppenhäuter, Viper…«
»Ich weiß schon, was eine Schlange ist! Aber dann könnte jemand auf dich treten.«
»Nicht, wenn ich die richtige Schlangenart aussuche. Beispielsweise e i ne Buschmeisterin.«
»Aha. Ja, vielleicht.«
»Ich werde meine Gestalt verändern. Und du stellst den Kürbis für mich auf.« Er verwandelte sich in einen Busch mit reptilischen Schuppen und giftigem Laubwerk. In diesem Zustand würde ihn wirklich niemand behelligen.
Metria drehte den Kürbis herum, bis eins seiner Gucklöcher sich auf eins der Buschaugen richtete. Als der Busch sich versteifte, wußte sie, daß es funktioniert hatte. Nun löste sie sich selbst in Dampf auf und drang vorsichtig durch das Guckloch ein, darauf bedacht, Dolphs Sich t linie nicht zu unterbrechen.
Innen war es dunkel und feucht. Sie konnte nichts sehen, also ließ sie an ihre Nasenspitze eine Glühbirne entstehen. Die Birne saugte die Dunkelheit auf und warf das Licht zurück, so daß alles halbwegs sichtbar wurde.
Metria trieb tief unten in einem salzgrünen Meer. Irgendwo weit oben mochte es auch eine Oberfläche geben, doch die schien viel zu weit en t fernt zu sein, um sich damit abzugeben. Von Dolph war nichts zu sehen, aber da er ja seine Gestalt hier drin ebenso verändern konnte wie im normalen Leben, war er vielleicht zu einem Fisch geworden, der vor ihr das Gebiet erkundete. Das Meer schien tatsächlich einen Grund zu h a ben, und auf diesem ruhte eine große verzierte Vase. Metria hatte keine Vorstellung, was sich darin befinden mochte, also formte sie einen Kn ö chel aus und klopfte dagegen.
Ein Kopf schoß hervor. »He?« fragte er. »Wer hat da an meine Urne geklopft?«
»Entschuldigung«, erwiderte Metria. »Ich wußte nicht, daß es verboten ist, gegen Urnen zu klopfen.«
Er starrte sie an. »Was für eine Kreatur bist du denn?«
»Ich bin die
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