Vogel-Scheuche
andere doch war, und wie hervorragend Vertrauen und Vorsicht sich doch ergänzten. Doch war ihre gegenwärtige Lage zu prekär, um allzuviel Spielraum fürs Nachdenken zu lassen.
»Vielleicht sollten wir uns nach unten begeben und versuchen, ein Boot zu finden«, schlug sie vor.
»Einverstanden. Und etwas zum Anziehen. Obwohl ich zugeben muß, daß es meine Augen nicht gerade beleidigt, dich so anschauen zu mü s sen, wie du bist.«
Sie errötete um eine halbe Schattierung, was sie gleich doppelt so schön machte, obwohl das doch schier unmöglich war. Er mochte zwar jung sein, aber er hatte etwas. »Dasselbe kann ich von dir behaupten.«
Dann ließ er sie am Seil hinunter und kam hinterhergehangelt. Schlie ß lich zog er an dem Strick, worauf sich die Schlinge von der Zinne löste und neben ihnen zu Boden ging. Im schützenden Schatten der Mauern umschlichen sie das Schloß. Sie gelangten an einen Bau, der ein verriege l ter Bootsschuppen hätte sein können. Vore wollte ihn gerade mit Gewalt öffnen, als Nada ihn darauf aufmerksam machte, welchen Lärm das wahrscheinlich machen würde. Statt dessen schob sie einen geflochtenen Faden aus dem Seil durch das Schlüsselloch und schaffte es, damit den Innenriegel zu heben. So gelangten sie völlig lautlos ins Innere des Bootsschuppens. »Wie kann eine Prinzessin nur so hervorragend einbr e chen?« fragte Vore bewundernd.
»Ich hatte früher einmal eine Passion für Kekse, die aber leider eing e schlossen waren«, gestand sie. »Also habe ich mir beigebracht, wie ich an sie herankomme, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«
Im Innern des Schuppens befand sich ein kleines Luftboot. Vore hob es in die Luft, wo es schweben blieb. »Ich hatte eigentlich mit einem Wasserboot gerechnet«, meinte er, »aber das genügt schon.«
Nada kletterte hinein, und Vore schob das Boot aus der offenen Tür, dann bestieg er es selbst. Zwar sackte es unter ihrem Gewicht etwas ab, schwebte dann aber anstandslos weiter. Vore nahm die Ruder und sorgte mit kräftigen Zügen dafür, daß sich das kleine Fahrzeug in die Gege n richtung fortbewegte.
Im Schloß ertönte ein Geräusch. »Oh, da kommt jemand«, sagte Nada beunruhigt. »Wir müssen fliehen, bevor sie uns entdecken.«
Vore legte sich ordentlich in die Riemen, und das Boot schoß nur so vom Schloß fort. Als Nada aus dem Boot schaute, machte sie die Entd e ckung, daß das Schloß gar nicht von Wasser, sondern von himmelblauer Luft umgeben war. Kein Wunder, daß sie dort ein Luftboot vorgefunden hatten: Das Schloß schwebte ja selbst in der Luft, nämlich auf einer Wolke.
Bald darauf konnten sie hinter einer weiteren Wolke in Deckung g e hen, so daß sie vom Schloß aus nicht mehr zu sehen waren. Es schien, als sei ihre Flucht gelungen.
»Aber Kleider haben wir keine gefunden«, fiel es Vore wieder ein.
»Vielleicht können wir etwas dagegen unternehmen«, meinte Nada. »Du kannst uns in die Tiefe rudern und schauen, ob du irgendwelche Landschaftsmerkmale wiedererkennst. Ich werde inzwischen unser Seil auflösen und versuchen, etwas Stoff daraus zu flechten.« Und sie machte sich mit behenden Fingern gleich ans Werk.
»Für eine Prinzessin verfügst du aber über bemerkenswerte Fähigke i ten«, kommentierte Vore bewundernd.
»Na ja, als Prinzessin der Naga muß ich das auch. Die Kobolde setzen uns ziemlich schwer zu, da darf niemand einfach durchhängen.«
»Du bist eine Naga?« fragte er überrascht.
»Ja, tatsächlich, jetzt kann ich es sagen«, meinte sie ebenfalls erstaunt. »Wahrscheinlich läßt die Wirkung des Zaubers langsam nach. Genau, ich bin Prinzessin Nada Naga, einst mit dem Prinzen Dolph Mensch ve r lobt, aber mittlerweile wieder frei, wenn man so will. Bereitet dir das Unbehagen?«
»Früher hätte das wohl vorkommen können«, gestand er. »Aber jetzt, da ich dich kenne, ist es eher umgekehrt. Kannst du denn deine Schla n gengestalt annehmen?«
»Ich will es versuchen.« Und schon war aus ihr eine zusammengekri n gelte Schlange geworden. Dann erschien ihr Menschenkopf oben an der Spitze des Schlangenleibs. »Ja, meine Fähigkeiten kehren langsam z u rück.« Sie nahm wieder volle Menschengestalt an.
»Vielleicht gilt es dann auch für meine«, bemerkte Vore. »Ich bin nä m lich ein Dämon.«
»Ein Dämon!«
»Prinz D. Vore. Bereitet dir das Unbehagen?«
»Ja, ich hatte angefangen, dich zu mögen.«
Er löste sich in Rauch auf, um schließlich wieder Menschengestalt a n zunehmen. »Stimmt, jetzt kann
Weitere Kostenlose Bücher