Vogelfrei
kurzes, silbriges Haar, das in weichen Locken um das schmale Gesichtchen fiel; spitze Ohren lugten daraus hervor. Noch immer hatte Dylan keine Ahnung, was mit ihm geschehen war, aber als er dem kleinen Geschöpf in die leuchtend blauen Augen sah, begriff er, dass er eindeutig keinen Engel vor sich hatte, und seine Umgebung entsprach wahrlich nicht seiner Vorstellung vom Himmelreich. Er zwinkerte verwirrt. »Wie kommen sie denn darauf?«, fragte er dann.
»Psst, nicht so laut.« Mit vor der Brust verschränkten Armen blickte das elfenähnliche Wesen zu den streitenden Männern hinüber. »Soll das heißen, dass du kein Engländer bist?«
»Natürlich nicht. Matheson ist kein englischer Name.«
Die Elfe schien erleichtert. »Wenn du ein Matheson bist, dann sprich gefälligst Gälisch«, drängte sie.
Dylan schüttelte den Kopf, bereute die Bewegung jedoch sofort. »Ich kann kein Gälisch. Jedenfalls nicht genug, um mich verständlich zu machen.«
Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Red keinen Unsinn. Du musst doch Gälisch sprechen.«
Wieder schüttelte er den Kopf, diesmal jedoch erheblich vorsichtiger, woraufhin sie unwillig das Gesicht verzog. Dylans Kopf schmerzte, deshalb nahm er eine rasche Bestandsaufnahme seiner Verletzungen vor. Der kupfrige Blutgeschmack in seinem Mund beunruhigte ihn, und als er mit der Zunge über seine Zähne fuhr, spürte er, dass sei-ne Lippen an der Innenseite aufgeplatzt waren. Verkrustetes Blut bedeckte sein Gesicht, ein Auge war halb zugeschwollen, und seine Nieren pochten, aber zumindest schienen alle Knochen heil geblieben zu sein. Er hob den Kopf. »Kann man hier irgendwo ein Aspirin kriegen?«
»Ein was?« Die Hände der Elfe gerieten in aufgeregte Bewegung.«
»Ein Aspirin. Gegen meine Kopfschmerzen.«
»Ich kenne kein Kraut, das Aspirin heißt.«
»Es sind Tabletten. Hast du denn noch nie von Aspirin gehört?«
»Nein. Von Tabletten auch nicht. Bist du sicher, dass du Englisch sprichst?«
Dylan seufzte und verkniff sich eine bissige Bemerkung. Dann fragte er: »Wo bin ich hier eigentlich?«
»In Glen Ciorram, in einer alten Burg namens Tigh a'Mhadaidh Bhàin. Haus des weißen Hundes. Es ist der Landsitz des hiesigen Lairds, Iain Matheson, den seine Familie und seine Freunde Iain Mór nennen. Sein Vetter Alasdair Matheson wurde heute Nachmittag vor der Schwelle seines eigenen Hauses von einem englischen Schwein und seinen teuflischen Dragonern ermordet; vor den Augen seiner Frau und seiner kleinen Kinder. Dann beschlagnahmten die Engländer all seine irdische Habe und brannten sein Haus bis auf die Grundmauern nieder.«
Das erklärte die stinkenden Trümmer, die er gesehen hatte, den Toten drüben auf dem Tisch und das dunkle Bündel auf dem Boden vor dem Haus. Langsam stellte er fest: »Und jetzt glauben diese Leute, ich hätte etwas damit zu tun, weil...«
»Weil du Englisch sprichst.«
»Was für ein Zufall. Die halbe Welt spricht Englisch.«
»Richtig. Diese Burschen da drüben übrigens auch, aber nur, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden lässt. Und mit Sicherheit käme kein einziges englisches Wort aus ihrem Mund, wenn sie unter Spionageverdacht stünden - so wie du. Was du wissen müsstest, wenn du kein verdammter Sassunach wärst, der des Gälischen nicht mächtig ist.«
Spionage? In Schottland? Wie, zum Teufel, war er denn nach Schottland gekommen? Dylan schloss die Augen. Sein Kopf tat so weh, dass er kaum klar denken konnte. Vor wie vielen Jahrhunderten hatten die Engländer zum letzten Mal Spione in Schottland eingesetzt? Vor einem? Oder zwei? Und er lag hier, fünftausend Meilen von dem Ort entfernt, wo er sich noch vor wenigen Minuten befunden hatte, war von einem schottischen Schlägertypen mit einem Messer angegriffen worden und unterhielt sich mit einer vier Fuß großen Frau mit weißen Flügeln und spitzen Ohren. »Wer oder was bist du eigentlich?«
Sie antwortete so obenhin, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt: »Ich bin eine Fee. Sinann Eire heiße ich, Enkelin des Meeresgottes Lir. Ich habe dich hierher gebracht, damit du meine Leute vor den Engländern rettest.«
Wie bitte? Sein umnebelter Verstand weigerte sich, die Existenz von Feen zu akzeptieren, also konzentrierte er sich auf ihre letzten Worte. »Schottland wird schon lange nicht mehr von den Engländern bedroht. Es ist nämlich mehr oder weniger ein Teil Englands; untersteht seit 1707 der englischen Regierung, und seit 1745 hat es auch keinen
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