Vogelfrei
werden, in denen auch die Dorfbewohner hausten. Der innere Burghof wimmelte von Ziegen, Schafen und Schweinen, deren scharfe Ausdünstungen sich mit dem Geruch der in den Burgstallungen untergebrachten Pferde vermischten. Weitere Männer waren zusammen mit dem Vieh von den shielings genannten Weiden ins Tal gekommen, und die Gänge und Hallen der Burg vermochten die vielen Menschen bald kaum noch zu fassen. Eine Art Festtagsstimmung lag in der Luft, so wie zu Hause vor den Weihnachtstagen, obwohl man erst Ende Oktober schrieb.
Eine Reihe von Sonntagen verstrich - willkommene Ruhepausen von der harten Wochenarbeit. Sinann hatte sich seit einigen Tagen nicht mehr blicken lassen, und Dylan fragte sich allmählich, wo sie wohl abgeblieben sein mochte. Zwar fand er es recht angenehm, nicht ständig von ihrer spitzen Zunge geplagt zu werden, doch falls sie zu dem Schluss gekommen war, dass er »ihre Leute« doch nicht retten konnte, dann könnte sie genauso gut nachgeben und ihn endlich nach Hause schicken, dachte er.
Ständig hielt er nach der hübschen blonden Frau Ausschau, bei der es sich, wie er inzwischen erfahren hatte, um Iains Tochter Caitrionagh handelte. Er hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt, sich mit ihr zu unterhalten, hätte es vermutlich auch gar nicht gewagt. Nur zu gut erinnerte er sich an Iain Mórs Reaktion, als er Caitrionagh in jener ersten Nacht hinterhergeschaut hatte. Wenn er sie ansprach, würde der Laird ihm vermutlich den Hals umdrehen. Doch abends, wenn sich der Clan in der großen Halle versammelte, war sie oft dabei, und er riskierte so manchen verstohlenen Blick. Diese abendlichen Zusammenkünfte waren sehr beliebt; die Männer und Frauen des Tales saßen eng zusammengedrängt auf Stühlen, Bänken und manchmal sogar auf den Tischen und besprachen die Ereignisse des Tages. Oft gab es dann auch Musik und Tanz, vor allem, wenn die Jugendlichen dabei waren, und nicht selten hockten ein paar Männer vor dem Kamin, wo sie, in hitzige Debatten verstrickt, die Köpfe zusammensteckten und sich durch nichts und niemanden stören ließen.
Eines Morgens fand sich der gesamte Clan vollzählig in der großen Halle ein. Eine fast greifbare Spannung lag in der Luft, die sich noch verstärkte, als mehrere Leute vor den Laird geführt wurden; keiner von ihnen schien sich sehr wohl in seiner Haut zu fühlen. Dylan lehnte neben dem Tor zum Burghof an der Wand, hier stand er niemandem im Weg und konnte trotzdem alles überblicken. Verwirrt murmelte er ins Nichts, als ob die abwesende Fee ihn hören könnte: »Herrje, Tink, was hat das alles zu bedeuten?«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sich Sinann auch schon vor ihm aufbaute; ein breites Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
Er zwinkerte. »Tink. Wie lange bist du denn schon hier?«
»Wer sagt denn, dass ich je weg war? Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. Du hast dich wirklich zu einem recht brauchbaren Schnitter entwickelt, und mit der Sichel gehst du um, als hättest du nie etwas anderes getan. Ich muss dich loben, mein Freund.«
Dylan verzog das Gesicht. »Ich brauche einen Dolmetscher. Was geht hier eigentlich vor?«
»Heute ist Gerichtstag.«
Das erklärte die angespannte Atmosphäre im Raum; dennoch ließ sich die Situation nicht im Geringsten mit den formellen Gerichtsverhandlungen vergleichen, die Dylan von zu Hause her kannte. Iain saß in einem knarrenden Holzstuhl vor dem Küchenfeuer am Ende der Halle, Malcolm stand hinter ihm, und die jeweiligen Parteien trugen ihm ihre Anliegen vor. Sinann klärte Dylan darüber auf, dass der Mann in dem zerschlissenen, ausgebleichten Kilt und dem gelben Hemd, der gerade vor Iain stand, Colin Matheson hieß. Er wurde beschuldigt, Gras gestohlen zu haben.
Iain fasste den Übeltäter grimmig ins Auge, ohne weiter auf das Gezeter des Anklägers einzugehen. »Colin, ich habe dir doch ausdrücklich befohlen, das fragliche Stück Land abzugeben. Es gehört nicht mehr zu deiner Pacht.« Sinann übersetzte, während der Laird sprach.
Colin machte ein verdrossenes Gesicht. Sonderlich angetan schien er von dem Gedanken, einen Teil seines Landes abtreten zu müssen, nicht zu sein. »Ohne dieses Stück Land bleibt mir aber nicht genug zum Leben!«
»Und warum nicht? Deine Pacht ist entsprechend herabgesetzt worden. Du hast ebenso viel und ebenso gutes Land zur Verfügung wie jeder andere Mann in deiner Situation.«
»Aber Iain ...«
»Widersprich mir nicht, Mann! Du hast gehört, was ich dir
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