Vogelwild
gelegen.«
Hagedorn nickte wissend: »Genau, wie ich vermutete.
Trotzdem hat er diesen Schlag in den Nacken bekommen. Und das sollte Ihnen zu
denken geben.«
Morgenstern zögerte kurz, dann überwand er sich und
fragte: »Könnte ich die Leiche kurz sehen?«
Hagedorn staunte nicht schlecht: Die meisten
Kriminaler waren nicht gerade erpicht darauf, die Toten noch einmal genauer zu
inspizieren, das überließen sie in aller Regel lieber ihm. Eine Arbeitsteilung,
die sich bewährt hatte. Sein Motto: Wenn man als halbwegs mitfühlender Mensch
Wert auf einen ruhigen und erholsamen Schlaf legte, dann sollte man sich nicht
zu viele Leichen ansehen. Aber wenn der Oberkommissar es wünschte … Der
Pathologe setzte zum Gehen an. »Bitte sehr, wenn Sie mir kurz folgen wollen.«
Hinter der dicken Edelstahltür, die zu einem Nebenraum
führte, verbargen sich drei große Schubfächer. Im mittleren lag der türkische
Arbeiter. Hagedorn, der sich inzwischen mit wachsfarbenen Gummihandschuhen
bewaffnet hatte, zog die Bahre heraus, packte ohne sichtbare Gefühlsregungen
den Toten mit beiden Händen an Schulter und Hüfte und drehte ihn auf die Seite,
sodass der Nacken frei lag: »Sehen Sie jetzt, was ich meine?« Auf der
ursprünglich braun gebrannten, jetzt aber todesblass-gelblichen Haut war trotz
der dichten schwarzen Behaarung der Leiche bei näherem Hinsehen der »blaue
Fleck« zu erkennen.
Morgensterns Blick fiel nur sehr kurz auf die Stelle.
»Könnte er den nicht schon länger gehabt haben?«
»Eher nicht. Der scheint mir doch recht frisch zu
sein.« Sorgfältig drehte Hagedorn den Toten wieder auf den Rücken und schob ihn
in die Kühlanlage zurück. Dann zog er seine Handschuhe aus und warf sie in
einen Blechmülleimer mit massivem Deckel. »Das wär’s dann von meiner Seite.
Jetzt sind Sie dran. Und viel Erfolg da oben in Wintershof, Oberkommissar
Morgenstern.« Der Ermittler war schon wieder draußen auf dem Gang, als er
hörte, wie ihm Hagedorn noch nachrief: »Güle güle!«
Es dauerte einen Moment, bis beim Oberkommissar der
Groschen gefallen war: Das war türkisch für »auf Wiedersehen«.
Eilig
fuhr Morgenstern zurück ins Polizeipräsidium, um Schneidt über die neueste
Entwicklung zu informieren. Dieser hörte sich Hagedorns Vermutungen
interessiert, aber skeptisch an.
»Ja, ja, der Doktor Hagedorn, unser alter
Verschwörungstheoretiker! Aber kein schlechter Mann. Und der meint also, es
könnte Mord gewesen sein. Was ist denn Ihre Meinung dazu, Morgenstern?«
»Na ja, von Mord hat Hagedorn explizit nichts gesagt,
aber im Grunde bleibt ja nichts anderes übrig, wenn man einen Unfall
ausschließt. Trotzdem könnte er sich irren.«
Schneidt dachte lange nach, bevor er entschied: »Wir
werden der Vermutung unauffällig nachgehen, tun aber nach außen vorläufig so,
als wäre der Tote eindeutig bei einem Unfall ums Leben gekommen. Und wenn es
tatsächlich einen Mörder geben sollte, dann ist es gut, wenn der sich noch in
Sicherheit wiegt. Und Sie, Morgenstern, werden ihn in diesem Fall finden. Also,
frisch ans Werk!«
Als Erstes rief Morgenstern bei der Eichstätter
Polizeidienststelle an. Der getreue Huber hatte Dienst. »Manfred, ich müsste
wissen, wem der Steinbruch gehört. Wer war der Chef unseres Türken?«
Huber war auf die Frage vorbereitet: »Das hat sich
bereits gestern Abend geklärt. Die hat sich gleich bei uns gemeldet und wollte
Näheres wissen.«
»Wieso ›die‹?«
»Tja, das Steingeschäft ist zwar eine Männerbranche,
aber das heißt ja nicht, dass nicht auch eine Frau einen Betrieb führen könnte.
Pauline Schredl ist Geschäftsführerin der Schredl-Natursteinwerke in Solnhofen.
Wenn du mich fragst, eine sehr patente junge Frau.«
»Solnhofen, sagst du? Das ist aber eine ganze Ecke weg
von Wintershof.«
»Na ja, zwanzig Kilometer, aber das ist doch
heutzutage immer noch ein Katzensprung. Das Schredl-Werk gehört zu den größeren
der Branche, mit einer Klitsche hat das nichts gemein. Die kleinen hören
mittlerweile einer nach dem anderen auf, und am Ende werden nur ein paar übrig
bleiben, die unter sich die Brüche aufteilen. Da spielen zwanzig Kilometer nun
wirklich keine Rolle. Und alle, die im Steingewerbe ein bisschen auf Zack sind,
denken sowieso längst global. Wenn es sich ergibt, haben die auch schon mal
einen Steinbruch in Indien.«
»Bei den Arbeitsbedingungen, die ich im Wintershofer
Steinbruch gesehen habe, dürften die Unterschiede zu Indien nicht allzu groß
sein«,
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