Vogelwild
es vor, dass ein Archaeopteryx vom
Sturm zu weit in die Lagune hinausgetrieben wurde, dort ins Wasser fiel und
ertrank«, ging es im Vortrag weiter. »Der Boden der Lagune war aus
lebensfeindlichem Kalkschlamm, ganz ohne Sauerstoff, in dem der tote Vogel dann
versank. Dort konnte er weder von anderen Tieren gefressen werden noch
verwesen. Der Kadaver wurde von einer Schlammschicht nach der anderen bedeckt,
die im Laufe der Jahrmillionen zu Stein wurden. Und genauso erging es allen
anderen Lebewesen, die zu Boden sanken.«
Stolz führte die Frau die Gäste zu einem vier Meter
langen Flusskrokodil, das zu einem Fossil geworden war, und dann vorbei an
riesigen Fischen. Anschließend dirigierte sie die Gruppe wie eine Gluckhenne
ihre Küken zu einer großen Vitrine: »Hier haben wir einen kleinen
Raubdinosaurier, auf den wir sehr, sehr stolz sind. Obwohl er klein wie ein
Marder war, war er mit seinen scharfen Zähnen zweifellos ein aggressiver Jäger.
Darf ich vorstellen: der Juravenator, auf Deutsch: der Jurajäger.« Morgensterns
Jungen drängelten sich nach vorne, während ihr Vater einen langen Hals machen
musste. »Diesen Raubsaurier gibt es nur ein einziges Mal auf der ganzen Welt:
hier in unserem Museum. Damit ist er vom wissenschaftlichen Standpunkt aus
betrachtet sogar noch bedeutender als unser Archaeopteryx, denn den gibt es
immerhin in zehnfacher Ausführung, allerdings existieren da verschiedene
Zählarten.«
In elffacher Ausführung, dachte Morgenstern, elf Mal.
Wenn ihr wüsstet …
Ein ganzer Saal des Museums war einzig und allein dem
Archaeopteryx gewidmet. »An ihm wollen wir die Evolution des Fliegens
darstellen«, erklärte die Führerin. »Wir wollen zeigen, wie die Tiere den
Himmel eroberten, und dabei kommt dem Archaeopteryx eine zentrale Bedeutung zu.
Schließlich war er das erste Tier, das zum Gleitflug Federn benutzte.«
An einer Wand lief auf einem großen Bildschirm ein
Film, in dem sich ein Schwan mit mächtigen Flügelschlägen aus dem Wasser erhob.
An der gegenüberliegenden Wand war der Original-Archaeopteryx des Jura-Museums
ausgestellt – umgeben von Kopien mehrerer anderer Exemplare, die auf Museen in
der ganzen Welt verstreut seien, so die Führerin: »In London, in den
Niederlanden, und«, die Frau seufzte, »drüben in Solnhofen hat das
Gemeindemuseum ebenfalls ein Exemplar.«
Morgenstern trat vor und betrachtete die Steinplatten
aufmerksam. Der Urvogel, den er vom Polaroid her kannte, kam ihm gegen die
bisher gefundenen vergleichsweise schäbig vor. Aber vielleicht spielte das auch
keine Rolle. Vielleicht kam die Qualität ja erst beim Präparieren zur vollen
Geltung?
»Was ist so ein Archaeopteryx denn wert?«, fragte er
die Expertin.
»Nun, die Frage bekommen wir natürlich oft gestellt«,
antwortete sie. »Es wird behauptet, Sammler in Japan wären bereit, circa eine
halbe Million Euro für einen Urvogel auszugeben. Aber das sind alles nur
Gerüchte, genau weiß ich es leider nicht.«
»Und dieser kleine Raubsaurier dort drüben, was würde
der beispielsweise kosten?«
»Unser Juravenator? Der ist natürlich unverkäuflich.
Aber im Fall des Falles wäre er wahrscheinlich wesentlich günstiger.«
»Obwohl es ihn nur ein einziges Mal gibt?«
»Ja. Das ist ungerecht, nicht wahr?«
»Aber warum ist ausgerechnet der Archaeopteryx so
wertvoll?«, bohrte Morgenstern nach.
»Das ist historisch bedingt. Er ist eine Ikone der
Naturwissenschaft.«
»Aha.«
»Nun, und er ist einfach auch mehr als nur ein
versteinertes Tier. Er ist der Schlüssel zur gesamten Evolutionslehre. Sie
kennen doch Charles Darwin und sein bahnbrechendes Werk über die Entstehung der
Arten aus dem Jahr 1859?«
»Ja, das heißt, natürlich nicht im Detail«, murmelte
Morgenstern. Darwin hatte er zwar schon einmal gehört, hoffte aber, dass die
Führerin ihm jetzt keine weiteren Fragen stellen würde.
»Also, für alle, die sich in der Materie nicht so gut
auskennen, und natürlich insbesondere für unsere Kinder«, dabei blickte sie
Bastian und Marius an, »Charles Darwin veröffentlichte 1859 die sogenannte
Evolutionstheorie über die Entstehung der Arten. Darin stellte er fest, dass
sich alle Lebewesen im Laufe der Jahrmillionen immer weiterentwickelten, dass
zum Beispiel aus einer Tierart eine neue entstand, weil sich die Tiere
spezialisierten und sich auf neue oder veränderte Lebensräume einstellten.
Darwin konnte das auf den Galapagosinseln anhand verschiedener Finkenarten
sogar nachweisen.
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