Vogelwild
Morgenstern am frühen Nachmittag mit zwei großen Bechern Cola vor
ihren Tellern, nagten wieder einmal je einen Vogel bis aufs Gerippe ab und
bestaunten interessiert die Knochen.
»Mit dir muss man ganz schön auf der Hut sein«,
moserte Hecht im Spaß. »Immer dieses Fast Food, das schlägt uns bestimmt bald
auf die Hüften.«
»Das musst du gerade sagen, du dünner Spargel«, meinte
Morgenstern, worauf sein Kollege grimmig knurrte.
»Diese Rosa Aurich aus Eichstätt, die Nachbarin vom
Ali, meinst du, die meldet sich noch mal?«, fuhr Morgenstern fort.
»Keine Ahnung, aber lass sie uns halt einfach
anrufen«, schlug Hecht vor. »Vielleicht ist ihr Lieblingsnachbar ja schon
wieder aufgetaucht, hat die Vorhänge aufgefädelt und ihr dabei eingeschärft,
den Mund zu halten.«
»Du hast recht. Ich probier es jetzt einfach mal.«
Morgenstern kramte erst nach seinem Handy, dann zückte er seinen Geldbeutel und
fingerte ein gutes Dutzend Quittungen, Zettel aller Art sowie verschiedene
Ausweise hervor. Auf der Rückseite eines alten Tankstellenbelegs fand sich
endlich, wonach er gesucht hatte: Rosa Aurichs Telefonnummer.
Die Rentnerin schien über Morgensterns Anruf
hocherfreut zu sein. Das sei aber schön, dass sich der Herr Kommissar auch mal
wieder melde, gell? Man habe ja vereinbart, in Kontakt zu bleiben. Und nein,
der Herr Akatoblu sei noch nicht heimgekommen. Aber freilich werde sie sich
melden, wenn der Ali wieder da sei. »Wissen Sie, er geht mir richtig ab«,
gestand sie, »weil er halt doch immer wieder mal bei mir nach dem Rechten
sieht. Und wenn ich ihn drum bitte, geht er für mich auch zum Bäcker oder
bringt mir was vom Supermarkt mit.«
»Na, sehen Sie, da haben Sie ja wirklich eine
wunderbare Nachbarschaft«, lobte Morgenstern und wollte fast schon auflegen.
Doch die Rentnerin war in Fahrt gekommen: »Dafür nehme
ich auch immer seine Pakete entgegen, wenn die Post oder einer von diesen
neumodischen Packerldiensten kommt. Ich stelle ihm alles immer gleich in seine
Wohnung, dann braucht er nicht groß bei mir nachzufragen.«
»Sie haben seinen Wohnungsschlüssel?« Morgenstern
verschluckte sich fast an seiner Cola.
»Ja, freilich, das ist doch unglaublich praktisch!
Übrigens hat er meinen auch. Man weiß ja nie, was mal passiert, in meinem
Alter. Es kann sein, dass man mal schnell Hilfe braucht. Was man da manchmal in
der Zeitung liest von alten Menschen, die in ihrer Wohnung stürzen und dann
tagelang nicht bemerkt werden. Ich habe ja sonst niemanden.«
Morgenstern atmete tief durch. Jetzt ging das schon
wieder los. »Hängen denn eigentlich Ihre Vorhänge schon, Frau Aurich?«, konnte
er sich eine Frage nicht verkneifen.
»Gott sei Dank ja. Wie hat mein Gustav selig immer
gesagt? Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein
her. Dieser nette junge Mann hat mir die Stores aufgehängt. Und er hat nicht
einmal die Tafel Schokolade angenommen, die ich ihm dafür geben wollte.«
»Welcher junge Mann, Frau Aurich?«
»Also, eigentlich waren sie ja zu zweit. Zwei junge
Männer, die gestern Mittag irgendwas für den Ali abholen wollten, aus seiner
Wohnung.«
»Und die hatten auch einen Schlüssel?«
»Nein, ich habe sie in die Wohnung gelassen. Die waren
wirklich nett, so höflich und sauber angezogen. Dass es solche jungen Menschen
heutzutage noch gibt, das hätte ich nicht gedacht.«
»Und was haben die in Alis Wohnung gesucht?«
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau. Erst
haben sie bei ihm drüben geklingelt und dann bei mir.«
»Aber Frau Aurich, Sie wollen mir doch nicht ernsthaft
erzählen, dass Sie zwei wildfremde Leute in die Wohnung Ihres Nachbarn gelassen
haben?«, ereiferte sich Morgenstern. Dabei wurde er mal wieder so laut, dass
sich einzelne Gäste im Hähnchenlokal nach ihm umdrehten.
»Ich war doch mit dabei. Ich bin mit denen rein, da
passe ich schon auf. Das ist doch klar. Und als ich erzählt habe, dass meine
Vorhänge … na, Sie wissen schon … da hat mir der eine angeboten, das sofort zu
erledigen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich gefreut habe. Wir
beide sind dann rüber und haben bei mir wieder alles schön ordentlich gemacht.«
»Und der andere Mann war so lange allein in Herrn
Akatoblus Wohnung?«
»So lange war das auch wieder nicht. Höchstens eine
Viertelstunde, wenn mal überhaupt. Nicht der Rede wert. Er ist auch bald zu uns
herübergekommen.«
Morgenstern starrte die Hähnchenreste auf seinem
Teller an.
Weitere Kostenlose Bücher