Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
sagte Yar Ali. »Allah allein weiß, vor wie vielen Jahrhunderten es vom Sand begraben wurde – wie so viele Städte in Turkestan.«
Sie schleppten sich weiter wie zwei Leichen in einem tristen Land der Toten. Der Mond schien rot und düster, war jedoch schon bald verschwunden. Die Schatten der Dunkelheit legten sich über die Wüste, bevor die Männer einen Punkt erreicht hatten, von dem aus sie sehen konnten, was hinter dem Hügelgürtel lag. Selbst die Beine des großen Afghanen wurden nun schwer, und Steve hielt sich nur mit eisernem Willen aufrecht. Schließlich quälten sie sich einen Hügelkamm hinauf, auf dessen Südseite das Land wieder abfiel.
»Wir rasten«, bestimmte Steve. »In diesem höllischen Land gibt es kein Wasser. Es ist sinnlos, ewig weiterzugehen. Meine Beine sind steif wie Gewehrläufe. Ich kann beim besten Willen keinen einzigen Schritt mehr tun. Schau, im Süden, dort ist ein abgebrochener Felsvorsprung, eine Art Kliff, etwa schulterhoch. Dort sind wir im Schlaf vor dem Wind geschützt.«
»Sollten wir nicht besser Wache halten, Steve sahib? «
»Nein. Umso besser, wenn die Araber uns im Schlaf die Kehle durchschneiden. Wir sind ohnehin tot.«
Mit dieser optimistischen Einschätzung legte Clarney sich steif im tiefen Sand nieder. Yar Ali blieb jedoch stehen, lehnte sich nach vorne und blickte angestrengt in die trügerische Dunkelheit, die den sternenbedeckten Horizont mit undurchdringlichen Schatten bedeckte.
»Dort ist etwas am südlichen Horizont«, murmelte er beunruhigt. »Es könnte ein Hügel sein. Ich kann es nicht genau erkennen – ich bin nicht einmal sicher, ob ich überhaupt etwas sehe.«
»Das ist sicher nur eine Fata Morgana«, erwiderte Steve gereizt. »Leg dich hin und schlaf«, und mit diesen Worten schlief er ein.
Er erwachte, weil ihm die Sonne in die Augen schien. Er setzte sich auf, gähnte, und verspürte sofort wieder großen Durst. Er griff zu seiner Feldflasche und befeuchtete seine Lippen. Es war nur noch ein Schluck übrig. Yar Ali schlief noch. Steves Blick wanderte über den südlichen Horizont, und plötzlich erschrak er und versetzte dem liegenden Afghanen einen Stoß.
»Hey, wach auf, Ali! Ich schätze, du hast dir doch nichts eingebildet. Da ist dein Hügel – und ein besonders seltsamer noch dazu.«
Als der Afridi erwachte, war er sofort hellwach, wie wilde Tiere es sind. Er griff blitzschnell zu seinem langen Messer, während er sich nach seinen Feinden umsah. Sein Blick folgte Steves Zeigefinger und seine Augen weiteten sich.
»Bei Allah und bei Allah!«, stieß er aus. »Wir sind im Land des Dschinn! Das ist kein Hügel – das ist eine Stadt aus Stein, mitten im Sand!«
Steve war so schnell auf den Beinen, als hätte er Sprungfedern unter den Füßen. Als er mit angehaltenem Atem seinen Blick schweifen ließ, entfuhr ihm ein heftiger Schrei. Unter ihm mündete der Abhang in eine weite Sandebene, die sich nach Süden erstreckte. In weiter Ferne, hinter dem Sand, konnte er gerade noch erkennen, wie der »Hügel« langsam Gestalt annahm, wie eine Fata Morgana, die aus Sandverwehungen erwächst.
Er sah hohe, unebene Mauern und riesige Zinnen, um die der Sand wie ein lebendes, fühlendes Ding herumkroch; er drang die Mauern empor und ließ die rauen Kanten sanfter erscheinen. Kein Wunder, dass die Stadt beim ersten Blick wie ein Hügel ausgesehen hatte.
»Kara-Shehr!«, rief Clarney laut aus. »Beled-el-Djinn! Die Stadt der Toten! Es war doch kein Wunschtraum! Wir haben sie gefunden – bei Gott, wir haben sie gefunden! Komm schon! Gehen wir!«
Yar Ali schüttelte unsicher den Kopf und murmelte etwas von bösen Dschinns, aber er folgte ihm. Der Anblick der Ruinen hatte Steves Hunger und Durst ebenso verschwinden lassen wie die Müdigkeit, die auch nach ein paar Stunden Schlaf noch nicht vollständig verflogen gewesen war. Voller Tatendrang wanderte er weiter. Er schien die aufkommende Hitze nicht zu bemerken, und die Gier des Entdeckers in ihm ließ seine Augen aufleuchten. Es war jedoch nicht allein die Gier nach dem sagenumwobenen Juwel, die Steve Clarney dazu gebracht hatte, sein Leben in der Wildnis aufs Spiel zu setzen. Tief in seiner Seele lauerte ein uraltes Erbe seines Volkes – der Drang, die vergessenen Orte der Welt zu finden, und dieser tiefe Drang war durch all die alten Geschichten wiedererweckt worden.
Als sie die karge Ebene durchquerten, die zwischen den Hügeln und der Stadt lag, erkannten sie die zerbrochenen Mauern
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