Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
haben.«
»Ich verstehe«, entgegnete er lächelnd. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Letzte Nacht habe ich zwar ein paar Katzen zwischen meinen Bäumen kreischen und miauen gehört – leider nur allzu deutlich, da ich wieder an meiner Schlaflosigkeit litt –, aber den Kater, den Sie meinen, habe ich nicht gesehen. Tut mir leid, von seinem Verschwinden zu hören. Möchten Sie nicht hereinkommen?«
Die Neugier, mehr über meinen Nachbarn zu erfahren, war groß, und so nahm ich seine Einladung an. Ich folgte ihm in sein Arbeitszimmer, in dem es nach Tabak und den ledernen Einbänden der Bücher roch. Interessiert ließ ich meinen Blick über die vielen Bände schweifen, die die Regale bis unter die Decke füllten, aber ich bekam nicht die Gelegenheit, mir die Titel näher anzuschauen, da sich mein Gastgeber als überraschend gesprächig herausstellte. Er schien sich über meine Anwesenheit zu freuen, und ich wusste, dass er sonst nur selten oder gar keinen Besuch bekam. Ich empfand ihn als sehr kultiviert, ein charmanter Gesprächspartner und ein überaus zuvorkommender Gastgeber. Aus einem antiken lackierten Schränkchen, dessen Tür aus einer hochglanzpolierten massiven Silberplatte zu bestehen schien, holte er Whiskey und Soda hervor, und während wir die Drinks genossen, wechselte er von einem interessanten Thema zum anderen. Einer beiläufigen Bemerkung entnahm er, dass ich mich sehr für die anthropologische Forschung von Professor Hendrik Brooler interessierte, und so erklärte er dessen Arbeit ausführlich und erläuterte einige Punkte, die mir bis dahin noch nicht ganz klar gewesen waren.
Fasziniert von der offenkundigen Belesenheit des Mannes, konnte ich mich erst nach fast einer Stunde wieder losreißen, und mein schlechtes Gewissen gegenüber Marjory, die auf Neuigkeiten von ihrem vermissten Bozo wartete, wuchs nun zusehends. Ich verabschiedete mich und versprach, bald wiederzukommen, und als ich zur Vordertüre hinausging, wurde mir bewusst, dass ich trotz allem nichts über meinen Gastgeber erfahren hatte. Er war sehr bedacht darauf gewesen, die Unterhaltung in unpersönlichen Bahnen zu halten. Auch wenn er nichts über Bozo wusste, sah ich dennoch als positives Zeichen an, dass wohl eine Katze im Haus lebte, denn während unserer Unterhaltung hatte ich über uns mehrfach ein Trippeln gehört. Doch als ich im Nachhinein genauer darüber nachdachte, hatte es eigentlich nicht nach einem herumrennenden Nagetier geklungen. Eher schon nach einem kleinen Kind, einem Lamm oder einem anderen kleinen Huftier, das immer wieder hin und her lief.
Meine gründliche Suche in der weiteren Nachbarschaft brachte keine Spur des vermissten Bozo, und so kehrte ich unverrichteter Dinge zu Marjory zurück. Als kleinen Trost brachte ich ihr eine tapsige, o-beinige Bulldogge mit, deren Gesicht wie das einer typischen Wasserspeier-Figur aussah und die das treueste Herz hatte, das je in einer Hundebrust schlug. Marjory weinte noch immer um den verlorenen Kater und nannte ihren neuen Vasallen zu seinem Andenken Bozo. Als ich sie verließ, tollte sie mit dem Hündchen im Garten umher, als sei sie zehn, nicht zwanzig Jahre alt.
Die Erinnerung an meine Unterhaltung mit Mr. Stark war noch sehr lebhaft, und so besuchte ich ihn in der folgenden Woche erneut. Einmal mehr war ich von seinem vielfältigen Wissensschatz sehr beeindruckt. Absichtlich sprach ich die unterschiedlichsten Themen an, und bei jedem erwies er sich als Meister des Fachs und drang tiefer in die Materie ein, als ich es je zuvor bei einem Gesprächspartner erlebt hatte. Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Philosophie – auf allen Gebieten war er gleichermaßen versiert. Obwohl ich von seinen Ausführungen wieder höchst fasziniert war, ertappte ich mich dabei, wie ich nach dem seltsamen Geräusch horchte, das ich beim letzten Mal gehört hatte, und ich wurde nicht enttäuscht. Dieses Mal war das Trippeln jedoch lauter, woraus ich schloss, dass sein Haustier gewachsen war. Vielleicht, so dachte ich, hielt er es im Haus, weil er fürchtete, es würde dasselbe Schicksal ereilen wie die verschwundenen Katzen. Weil das Haus, wie ich wusste, keinen Keller hatte, war es völlig natürlich, dass das Tier in einem Zimmer unter dem Dach hauste. Da Stark ein einsamer Mann ohne Freunde war, verspürte er wahrscheinlich große Zuneigung zu dem Tier, was auch immer es sein mochte.
Wir unterhielten uns bis tief in die Nacht; tatsächlich dämmerte es bereits,
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