Voll erwischt
und schwarz. Das Zimmer war dunkel, die Vorhänge fest zugezogen, um den Tag auszusperren. Als Sam anklopfte, öffnete sie die Tür nur einen Spalt, eine zusammengesunkene Gestalt, mehrere Zentimeter kleiner als die Marie, die er kannte und wiedererkannte. Sie trat zur Seite und öffnete die Tür ganz, damit er ihr Reich betreten konnte.
Im Hineingehen berührte er ihren Arm, zögerte kurz auf der Schwelle. Erinnerte sich an eine absolut wunderbare Marie und fragte sich, wohin sie gegangen war.
Er setzte sich in den Sessel, den er in diesem Raum immer benutzte. Das Polster der rechten Armlehne war zerrissen, etwas von der Füllung schaute heraus und verleitete ihn, daran zu zupfen. Marie ging schweigend an ihm vorbei und setzte sich auf die Kante der Couch vor dem Fenster, dessen Vorhänge den Tag aussperrten. Man sah sie an und würde nie denken, daß sie Krankenschwester war. Man stellte sich einen künstlerischen, holistischen Beruf vor, eine Heilerin oder eine Malerin. Man könnte glauben, sie malte Bilder. Aber nicht, daß sie Krankenschwester war. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, daß sie in eine gestärkte Uniform paßte. Die Hygiene und Sterilität eines Krankenhauses paßte einfach irgendwie nicht zu ihr.
«Wie geht’s dir?» fragte er leise.
Sie hob die Hände, die Handflächen nach oben gedreht, und schüttelte langsam den Kopf. «Beschissen», sagte sie. Sie fluchte nie. In fünfzehn Jahren hatte Sam niemals ein Schimpfwort aus ihrem Mund gehört. Sie war nicht prüde; Gus fluchte zu Hause, und sie sagte nie etwas dagegen. Sam erkannte, daß er bis jetzt, als sie fluchte, nicht gewußt hatte, daß sie nicht fluchte.
Sie zupfte an einer Haarsträhne. «Ich sehe wahrscheinlich fürchterlich aus», sagte sie.
«Ja.» Sam bestätigte es. Dann fragte er sich, ob sie wollte, daß er widersprach. «Tust du», sagte er. Mr. Integrität. Rieb es richtig rein.
Marie lächelte. «Du bist selbst auch nicht gerade ein Ölgemälde», sagte sie.
Sam erhob sich aus dem Sessel und setzte sich zu ihr auf die Couch. Er nahm sie in die Arme, und sie drückte sich an ihn. Und so saßen sie da, die Köpfe aneinandergelehnt, die Muskeln angespannt. Und was sie noch an Kraft und Stärke besaßen, das teilten sie nun. Sie war eine große, kräftige Frau. Grobknochig, aber mit zuviel Fleisch auf den Hüften und dem Hintern. Ihr Busen wogte tatsächlich. Gus sagte immer, wenn Marie in die Stadt ging, dann war kein Schokoriegel vor ihr in Sicherheit.
Sie wiegten sich sanft, schwankten von einer Seite zur anderen, hielten die Berührung und wärmten sich gegenseitig. Als aus der Wärme Hitze wurde und er Schweißperlen über seine Brust rollen spürte, ließ Sam sie langsam los und erlaubte ihr, gegen die Rückenlehne der Couch zu sinken. «Ich hole uns was zu trinken», sagte er. «Mache uns was zu essen.»
Er ging in die Küche und bereitete ein paar Cracker mit Käse zu, füllte zwei Becher mit Kaffee, schwarz für ihn, mit Milch und ohne Zucker für Marie. Als er damit zurückkam, hatte sie einen kleinen Tisch zur Couch rangezogen. Sie saßen zusammen und redeten, aßen und tranken wie zwei Überlebende. Das einzige, was noch fehlte, war eine Zigarette.
«Was wirst du jetzt tun?» fragte er.
«Wenn du wieder fort bist, werde ich spülen», sagte sie. «Und danach... Ich hab mir im Kopf eine Liste gemacht. Ich werde dafür sorgen, daß Gus’ Leichnam freigegeben wird, damit ich die Beerdigung arrangieren kann. Anschließend mache ich eine Runde durchs Haus und packe seine Sachen zusammen. Ich werde im Krankenhaus kündigen. Hätte ich sowieso schon längst tun sollen, wenn ich an den Zustand des Gesundheitswesens denke. Dann werde ich bei dir arbeiten. Mache da weiter, wo Gus aufgehört hat. Ich werde denjenigen finden, der ihn erschossen hat.»
Sam wartete, bis sie ihm in die Augen sah. «Rache?» fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, davon halte ich nichts. Aber wenn du unbedingt ein Wort dafür brauchst, dann ist Rache so gut wie jedes andere. Ich werde jeden Morgen früh aufstehen und zehn Kilometer joggen. Damit ich einen klaren Kopf bekomme. Im Augenblick empfinde ich nur Verwirrung, Bedauern und Trauer. Ich fühle mich körperlich und emotional ausgelaugt, und zwar so sehr, daß ich hundert Jahre schlafen, könnte, falls ich überhaupt schlafen könnte. Aber ich empfinde auch etwas Dauerhaftes, so etwas wie eine tiefe Beunruhigung, und da ist noch etwas. Ich glaube, das richtige Wort lautet
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